Als die Zeit noch reichlich

Als die Zeit noch reichlich
war keine Zeit zu denken.
Jetzt, da sie unbegreiflich,
will keiner sich versenken,
in das Eventuelle,
in das Bedeutungschwere.
Nun atmet jede Zelle
nackte Sinnesleere. 

Als der Sinn noch offen,
da war er schwer beladen,
mit Wünschen und mit Hoffen
und ignoriertem Schaden,
den er bereits genommen,
doch ohne es zu wissen,
vom Sinnensrausch benommen
- das Gefäß gerissen. 

Als das Gefäß noch voll
mit leichtem Spiel und Tand,
da empfand man keinen Groll
gegen Volk und Vaterland,
gegen die verführte Welt,
die noch jeden Sinn geglaubt,
den man ihr vor Augen stellt
und ihr den Zauber raubt.

Elmar Vogel am 26.2.2023
Audiodatei: Als die Zeit noch reichlich

Abgesang

Dem eignen Tod nicht zu entgehen,
sind wir geworfen in die Welt.
Und alles Trotzen, alles Flehen
gleicht einer Welle, die zerschellt,
am Fels der Brandung jener Lüge,
die unsre Hybris ignoriert:
Wähnt sich im Glauben es genüge,
dass Tod zu keinem Ziele führt,

-wiewohl ihm große Macht gebührt-

In diesem Glauben will sie erben,
was diese Welt ihr hinterlässt -
wischt dröge fort den Tod, das Sterben
und macht aus Totentanz ein Fest
der Sinne, des Rausches und der Macht:
Nehmt alles hin und lasst verglimmen,
jenes Feuer, das in euch entfacht,
als ihr noch Kinder wart mit Stimmen,

-die sangen gegen dunkle Nacht-

Noch sind die Lieder nicht verklungen,
noch tönen sie durch Raum und Zeit,
noch füllt der Geist die Kinderlungen,
noch stehn sie im Gesang befreit.
Doch wenn der letzte Ton geboren,
und an kein Ohr gedrungen ist
so ist auch jener Sinn verloren,
der uns die schönsten Klänge misst.

20. Februar  2023
Audiodatei Abgesang

Biblische Bezüge zum Text:
1. Vers:  Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden. Psalm 90,12
Aber, JHWH, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muß. Psalm 39,4
2. Vers:  Das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Lk 15,11–32
3. Vers:  Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen. Mat 18. 2
Mit wem soll ich diese Generation vergleichen? Sie gleicht Kindern, die auf den Marktplätzen sitzen und anderen zurufen: Wir haben für euch auf der Flöte gespielt und ihr habt nicht getanzt; wir haben die Totenklage angestimmt und ihr habt euch nicht an die Brust geschlagen. Matt 11, 17

Es ist ein Schnee gefallen

Es ist ein Schnee gefallen,
und es ist noch nicht Zeit.
Man wirft mich mit dem Ballen,
der Weg ist mir verschneit.
Mein Haus hat keinen Giebel,
es ist mir worden alt;
zerbrochen sind die Riegel,
mein Stüblein ist mir kalt.

Ein schwarzer Schnee wird fallen,
denn es ist an der Zeit.
Dann wird ein Ruf erschallen:
„Mach dich zum Gang bereit!“
Hinauf in höchste Sphären,
wo Götter sind vereint,
in Freuden zu verzehren,
das Brot, das hier beweint.  

Ein roter Schnee geht nieder,
ein Schnee so rot wie Blut.
Da kehret nimmer wieder,
was je darunter ruht.
Er decket alles Leben,
als wie ein dunkles Grab.
Die ganze Welt muss beben,
wenn alles fährt hinab.

Wohlan zu dieser Stunde,
wo man noch scherzt und lacht,
da bringe ich die Kunde,
von allertiefster Nacht.
Wie ists dem Menschen bange,
der all das tragen wird.
Drum bitte und verlange,
dass keiner sich verirrt. 

Der Tag neigt sich dem Ende,
schon bricht die Nacht herein.
Hier steh ich und verschwende
das Brot, das Salz, den Wein,
um noch einmal zu sagen,
dass alle Not und Qual,
Verzweiflung, Angst und Fragen,
erfüllt in Tag und Zahl.

Ach Herr lass dich‘s erbarmen,
dass ich so elend bin,
und schließ mich in dein Armen,
so fährt der Winter hin.
Der Winter und die Nächte,
die kalt und ohne Licht.
So lehr mich, dass ich möchte,
erschauen dein Gesicht.

Thematisch angelehnt an einen Liedtext von 1467 : “Es ist ein Schnee gefallen” sowie die Apokalypse des Johannes und “A hard rain’s gonna fall” von Bob Dylan.