Führt uns Gott in Versuchung?
Das Gebet, das Jesus lehrte, als seine Jünger ihn darum baten, enthält eine bemerkenswerte Bitte, die da lautet:
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.
Matthäus 6,13
Hier sollen wir an Gott die Bitte richten, uns nicht in Versuchung zu führen. Manche Theologen können und wollen nicht glauben, dass Gott in Versuchung führen kann. So stellen sie die durchaus berechtigte Frage: Ist es nun der Teufel, der uns in Versuchung führt, oder ist es Gott selbst? Oder anders gefragt, liegt die Versuchung des Menschen in Gottes Zuständigkeitsbereich oder liegt sie woanders?
Wie also wäre die Frage nach der Zuständigkeit der menschlichen Versuchung abschließend zu beantworten? Schlüssige Antworten zu dieser Frage findet sich im Kontext der Botschaft Jesu.
Vom anonymen Gott zum gebenden Vater
Eine grundlegende Einsicht und Erkenntnis, die wir aus der Botschaft Jesu gewinnen können, ist diese: Gott führt in Versuchung, solange wir nicht um Erlösung bitten. Ohne Bitten können wir nichts erwarten und empfangen und ohne das Böse auch keine Erlösung davon. Dabei ist es allein unsere menschliche Sehnsucht nach Erlösung, die Gott zum gebenden, die ihn für uns zum Vater werden lässt. Solange wir von Gott nicht alles erdenklich Gute und Notwendige ersehnen, um Beschwerliches und Leidvolles zu überwinden, bleibt Gott für uns eine namenlose, anonyme Größe. Bitten wir aber im Sinne Jesu: “Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.” Matthäus 6,13 So wird uns Gott, eben durch diese Bitte zum Vater und wir zu seinen Kindern.
Im Geist Jesu bitten wir um die Fähigkeit, Gott in allen Geschehnissen suchen und finden zu können, weil dies seinem Wesen entspricht. Ohne sehnsuchtsvolles Bitten können wir nichts empfangen und ohne die innere Auseinandersetzung mit den Erscheinungen des Bösen keine Erlösung.
Ganz in diesem Sinn ist auch das folgende Jesuswort zu verstehen:
Bittet, so wird euch gegeben; sucht, so werdet ihr finden; klopft an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan …
Matthäus 7, 7-8
Worin liegt der Sinn der Versuchung?
Erst dort, wo wir im Sinne Jesu, Gott als Ursache ausnahmslos aller Geschehnisse verstehen, die uns begegnen, empfangen wir alles aus der Hand Gottes, wodurch die Dinge für uns gut werden können. Bedenken wir in diesem Zusammenhang, dass Jesus in seiner Passion selbst Unrecht, Leid und Tod aus der Hand Gottes entgegengenommen hat. Und bedenken wir weiter, dass auch Jesus versucht wurde, wie uns die Evangelien berichten. Diese Geschehnisse hatten für Jesus eine grundlegende Bedeutung, denn aus seiner Haltung gegenüber seiner Passion und seiner Versuchung, können wir wiederum geistige Erkenntnisse gewinnen, die uns andernfalls nicht erreicht hätten. Daraus folgt: Passion und Versuchung Jesu hatten einen tiefen Sinn und in gleicher Weise soll (im Geist Jesu) auch unsere eigene Versuchung einen Sinn finden, worauf allein sich unsere Erlösung vom Bösen begründet. Erlösung bedeutet, dass Geist und Sinnloses unverhofft Geist und Sinn erfährt und Sinnfindung bedeutet Gott finden. Und Gott finden ist wiederum gleichbedeutend mit unserem Gefunden-werden durch Gott.
Versuchung und Erlösung – zwei Zustände
Versuchung und Erlösung sind zwei unterschiedliche innere Zustände der Wahrnehmung unseres Daseins. Diese Zustände formen unsere inneren Überzeugung. Versuchung ist eine Minderung unserer Wirklichkeit, Erlösung hingegen deren Vermehrung.
Im Zustand der Versuchung verstehen wir unsere Existenz aus uns selbst heraus. Das heißt, hier finden wir alles Lebenswerte, das wir suchen, wünschen und ersehnen als etwas sinnlich Erfahrbares, äußerlich Verfügbares oder durch uns selbst Herstellbares. Alles für uns Lebenswichtige und Mögliche befindet sich nach diesem Verständnis in dieser Welt, nichts kommt von „außerhalb“. Versuchung ist ein Zustand, in dem der Transzendenz des menschlichen Daseins keine Bedeutung zukommt. Der Mensch ist das, als was er seiner Äußerlichkeit nach erscheint, nicht weniger und nicht mehr. Insofern ist dies ein Zustand der Geistlosigkeit, der Profanität, der Banalität und der Sinnlosigkeit des Daseins. Leben wir in dieser Überzeugung, so reduzieren wir unsere menschliche Existenz auf die irdische, zeitgebundene und vergängliche Erscheinung. In diesem Zustand können und werden wir hinderlichen, leidvollen und beschwerlichen Situationen keine Bedeutung beimessen können. Dies ist der Zustand, in dem wir „in“ Versuchung sind, da wir gedanklich eins geworden sind mit der Versuchung, denn wir nehmen alles Äußere für bare Münze.
Der Zustand der Erlösung hingegen ist ein suchender, ein bittender, ein sehnsuchtsvoller, der die Überwindung aller menschlichen Hindernisse im Geist, also in Gott erkennt. In diesem Zustand erkennen wir unseren Wesenskern als ideell, zeitlos und unvergänglich. Drei Zitate mögen diesen Gedanken verdeutlichen:
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Aristoteles
Gut ist, was Wesen und Dingen ein Mehr an Wirklichkeit verleiht, böse, was ihre Wirklichkeit mindert.
Simone Weil
Ist nicht das Leben mehr als Essen und Trinken und der Leib mehr als die Kleidung?
Matthäus 6, 25
Erlösung macht uns fähig, alle Hindernisse dieses Dasein zu transzendieren, und das bedeutet, sie gedanklich zu überwinden. In diesem Zustand verstehen wir unsere gesamte Existenz in Gott und aus Gott. In der Überzeugung, die uns dieser Zustand verleiht, erkennen wir Gott als die Ursache aller Dinge, die uns begegnen und anhaften; Versuchung wie Erlösung gleichermaßen. Wann immer wir uns in diesem Zustand befinden, erkennen wir die Notwendigkeit menschlicher Versuchungen und wir werden fähig und mächtig, Gott um etwas zu bitten, das dieser uns nicht verwehren kann. Hier ist es die konkrete Bitte, dass unsere Versuchung der Erlösung dient.
In Gott sein oder in Versuchung sein
Ist Versuchung nun notwendig, oder soll sie vermieden werden? Beides! Wenn Jesus lehrt zu bitten: „Und führe uns nicht in Versuchung“ so ist in diesem Wort „in“ das Wesentliche dieser Bitte ausgedrückt. Denn so, wie wir durch Christus „in“ Gott gelangen, um vollkommen mit ihm eins zu werden, so können wir auch „in“ Versuchung geführt werden, wodurch wir eins werden mit der Versuchung. Dieses Einswerden mit der Versuchung ist es, wovon wir um Erlösung bitten sollen, wodurch es geschieht. Wir bitten nicht darum, dass unser Leben ohne Versuchung sein soll, sondern dass wir nicht eins werden mit der Versuchung. Diesen Ausdruck des Einswerdens mit einer Sache verwendet Jesus mehrfach an anderer Stelle:
An dem Tage werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch … // … damit sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; dass auch sie in uns eins seien …
Johannes 14, 20-21
Wer aber die Wahrheit tut, der kommt an das Licht, damit seine Werke offenbar werden; denn sie sind in Gott getan.
Johannes 3, 21
Das Einswerden mit der Versuchung ist es, das Gott verhindert, sofern wir ihn darum bitten, denn erst dort, wo wir gedanklich eins werden mit der Versuchung, sind wir tatsächlich „in“ Versuchung geführt worden.
Die Distanz gegenüber sich selbst
In Versuchung geführt zu sein bedeutet, dass wir dem Schein der Dinge erliegen, dass wir Irrtum und Täuschung für Wahrheit und Wirklichkeit halten. Solange wir Versuchung als solche erkennen, sind wir der Versuchung zwar ausgesetzt, aber nicht „in“ Versuchung geführt worden, denn wir wissen um die Falschheit unserer Gedanken und Handlungen, so wie es auch der Apostel Paulus formulierte:
Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber etwas tue, was ich nicht will, so tue ich dasselbe nicht; sondern die Sünde, die in mir wohnt …
Römer 7, 19-20
Dass wir versucht werden, das ist unvermeidlich, ja es ist sogar ein wesentlicher und notwendiger Teil unserer Existenz, damit wir erkennen können und wir Sehnsucht zu Gott gewinnen.
Die Bitte um Geist
Die einzige Bitte, der sich Gott nicht verschließen kann, ist die Bitte um Geist – ist die Bitte um Gott selbst. Gott kann nur sich selbst geben, da außerhalb Gottes nichts ist, was gegeben werden könnte. Wer Gott nicht entbehrt, der wird immer das Unwesentliche, das Zeitgebundene und das Entbehrliche entbehren und vermissen. Darin liegt die Versuchung, dass wir glauben, Gott entbehren zu können. Dieser Irrtum entfremdet uns von allem Wesentlichen, wie; Leben, Liebe, Geist und Sinn. Durch diesen Irrtum werden wir selbst unwesentlich und ein Opfer der Beliebigkeit. Jedoch durch unsere Bitte und Sehnsucht, nicht in Versuchung geführt zu werden, treffen wir ins Zentrum der „Sehnsucht“ Gottes. Denn in gleicher Weise, wie wir uns nach einem Zustand sehnen, der frei ist von Täuschung und Illusion (Versuchung), sehnt Gott sich danach, uns von Täuschung und Illusion zu befreien, wodurch wir mit ihm eins werden.