Geistige Verwandtschaft
Es ging aber eine große Menge mit ihm; und er wandte sich um und sprach zu ihnen: Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein. Und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein. Lukas 14,25-27
Die Situation selbst hat etwas Gleichnishaftes. Der Evangelist fängt die Stimmung um den wandernden Christus ein, indem er eine scheinbare Nebensächlichkeit schildert:
„…und er wandte sich um und sprach zu ihnen“.
Hier wird auch deutlich, wie sehr das Volk die Nähe zu diesem außergewöhnlichen Menschen suchte, wie es seine Ausstrahlung auffing – ihm regelrecht hinterherlief. Christus knüpft hier also nicht von ungefähr an das menschliche Bedürfnis nach Nähe, nach Gemeinschaft, nach menschlichen Bindungen und Abhängigkeiten an, als er seine Rede beginnt.
Es hat den Anschein, als ob er aufgreift, was situationsbedingt in der Luft liegt. So erklärt er seinen Zuhörern, dass jemand, der zu ihm kommt, ihm damit nicht unweigerlich auch „nahe steht“. Äußerliche Nähe oder menschliche Bindungen sind nicht der Schlüssel zu echter Nähe bzw. Gemeinschaft, vielmehr entsteht erst durch innere und geistige Verbundenheit wirkliche Nähe.
Nicht derjenige, der Jesus Christus buchstäblich hinterherläuft, sondern vielmehr jener, der sich nach einer geistigen Verbindung zu seiner Botschaft sehnt, kann sich Nachfolger oder Jünger Jesu nennen. Diese geistige Form von menschlicher Bindung beinhaltet ein vollkommen neues Lebensverständnis, in welchem jede menschliche Begegnung nun gleich wertvoll wird.
Und je höher das Ideal, desto weniger Raum für menschlich–vordergründige Bindung. In der ernsthaften Suche nach so einer geistigen Verbindung zur Person Jesu und zu seiner Betrachtung der Welt wird man sich der Enge rein menschlicher Bindungen und Konventionen bewusst.
Das heißt, menschlich-verwandtschaftliche Verhältnisse, die in Konkurrenz zu diesem allumfassenden Lebensverständnis stehen, werden als Einengung und Behinderung empfunden, weil in der Geisteshaltung Jesu eine gänzlich neue, eine universelle Art von Verwandtschaft mehr und mehr an Bedeutung gewinnt, und diese Art von Verwandtschaft steht über jeder rein menschlichen oder familiären Bindung.
Die Forderung Jesu steht insofern nicht im Widerspruch zum Gebot der Nächstenliebe, sondern sie steht geradezu exemplarisch für die vorbehaltlose Öffnung gegenüber jedem Mitmenschen. Die Worte Jesu sind so auch eine konsequente Fortführung und eine Bestätigung seiner Forderung nach Nächsten- und Feindesliebe.
Man denke in diesem Zusammenhang z. B. an den zwölfjährigen Jesus im Tempel, der seinen Vaterbegriff für sich bereits neu definiert hatte und seinen aufgebrachten Eltern entgegnet:
„Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich nur in dem sein konnte, was meines Vaters ist?“ Lukas 9,42
Oder als während einer öffentlichen Rede jemand auf ihn zukommt und ihm die Nachricht überbringt, dass draußen seine Mutter und seine Brüder auf ihn warten und dass sie dringend mit ihm sprechen möchten; da reagiert Jesus ganz ähnlich:
„Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?“ Und er streckte die Hand aus über seine Jünger und sprach: „Siehe da, das ist meine Mutter, und das sind meine Brüder! Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.“ Markus. 3,31-35;
Wir wissen durch die Evangelienberichte auch, dass die leiblichen Verwandten Jesu versuchten, ihn zur Rückkehr in sein altes familiäres Umfeld zu bewegen, wie es uns der Evangelist Markus berichtet:
„Und als es die Seinen hörten, machten sie sich auf und wollten ihn festhalten; denn sie sprachen: Er ist von Sinnen.“ Markus 3, 21
So hat Jesus auf seine Weise ein völlig neues, universelles Lebensverständnis vermittelt; indem er all die Menschen als Verwandte bezeichnet, die sich innerlich zu ihm (seiner Weisheitslehre) hingezogen fühlen, – die seine geistige Gemeinschaft suchen.
Durch diese völlig neue Art von Verwandtschaftsdenken betritt der Mensch sozusagen eine neue Begegnungsebene, eine Ebene, auf der nun alle Menschen gleichermaßen eingeschlossen sind.
„….alle Menschen werden Brüder, wo Dein sanfter Flügel weilt“ Schillers Ode an die Freude
Erst in dieser neuen (christlichen) Lebensauffassung kann ausnahmslos und vorbehaltlos jeder Mensch als Verwandter, als Bruder, als der Nächste erkannt und geachtet werden.
Das althergebrachte rein verwandtschaftliche Denken wird innerhalb solch einer Auffassung notwendigerweise als unzulänglich und überholt empfunden. Das Thomasevangelium gibt diesen radikalen Anspruch Jesu ganz in diesem Sinne und damit in nachvollziehbarer Weise wieder:
Wer nicht hasst seinen Vater und seine Mutter wie ich, wird mir nicht Schüler werden können. Und wer nicht liebt seinen Vater und seine Mutter wie ich, wird mir nicht Schüler werden können. Thomasevangelium Spruch 101
Mit „hassen“ wäre demnach nicht der Hass gegen den Menschen an sich gemeint, vielmehr richtet sich der Hass gegen die konventionellen und übernommenen menschlichen Festlegungen, Einteilungen und Bewertungen – also gegen die kleinlichen Kategorien, in die wir den Menschen und dazu uns selbst packen.
Der Hass, den Jesus hier fordert, richtet sich also gegen unser Denken in althergebrachten familiären Dimensionen. Seine Aufzählung Vater, Mutter Frau, Kinder, Schwester und Bruder ist eine Infragestellung jeder rein blutsverwandtschaftlichen Bindung.
Der Mensch ist eben keinesfalls nur das, wofür er sich seiner Geburt, seiner Abstammung oder seinem äußeren Anschein nach hält. Daraus folgt: Uns kann nur dann eine „höhere“ Rolle bzw. ein „tieferes“ Verständnis in dieses Leben zuteil werden, wenn wir gewillt sind, unser bisheriges bzw. unser rein menschliches Rollen- und Werteverständnis bedingungslos zu hinterfragen.
„Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht……“ ist auch nicht die konkrete Aufforderung sich von heute auf morgen von seiner Familie zu trennen, vielmehr geht es um das ehrliche – innere Eingeständnis, dass jeder Einzelne ein Befangener und ein Gefangener seiner selbst bzw. seines kleinlichen menschlichen Selbstverständnisses ist.
Mit „hassen“ meint Christus, dass man sich diesen bedauerlichen Zustand vor Augen halte, dass man sich des Dilemmas menschlicher Abhängigkeiten schonungslos bewusst werde und dass man angesichts dieser Tatsache innerlich betroffen und angerührt sei. Nur echte Betroffenheit schafft die notwendige Tugend der Demut in uns.
In dem geforderten Selbsthass liegt aber auch das Eingeständnis, dass man aus eigener Kraft nicht in der Lage ist, konsequent nach wahrer, geistiger Verwandtschaft zu suchen. Denn diese Art von Hass beinhaltet den sehnlichen Wunsch, von allen vordergründigen Abhängigkeiten frei zu werden.
Letztlich ist dieser Gedanke der Kern des ganzen Erlösungsmysteriums, und er kehrt wieder in der Vergebungsbitte des „Vaterunsers“.
„und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
Das ehrliche und aufrichtige Eingeständnis der eigenen Befangenheit und der innere Wunsch nach Ungebundenheit und Freiheit -jenseits menschlicher Konventionen- sind die Grundlage für eine tief greifende innere Wandlung des Menschen. Die viel gerühmte äußerliche Wandlung entzieht sich – in Wahrheit – jeder menschlichen Beurteilung. Denn jede authentisch äußere Wandlung ist eine Frage individueller Reife und wird das unweigerliche Produkt einer aufrichtig inneren Auseinandersetzung sein.
„Nehmt einen guten Baum, so wird auch seine Frucht gut sein“
Matthäus 12,33
Äußere Wandlung vollzieht sich ohne unser Zutun. Nicht wir sind es, die wir uns willentlich verwandeln, sondern wir werden verwandelt werden, dort wo wir die Geisteshaltung Jesu annehmen.
Es geht hier überhaupt nicht darum, dass wir unser menschliches Dilemma durch einen einmaligen Akt der Umkehr ein für alle Mal abstellen oder endgültig beenden könnten, sondern, uns der eigenen misslichen Lage immer und immer wieder bewusst zu werden – sie täglich zu tragen und zu ertragen. Daher auch der Nachsatz Jesu: „Und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein.“ Jesus fordert also (entgegen manch dogmatischer Darstellung) dazu auf, dass man gerade das Unangenehme und das Unselige berühren, anfassen, auf sich nehmen muss, um ihm wirklich „nahe“ zu sein.
Das Kreuz steht insofern als ein Sinnbild für alle peinlichen Hindernisse, durch die wir uns täglich unserer eigenen Schwerfälligkeit und Ohnmacht bewusst werden. Tragen und Nachfolgen meint das schonungslose Eingeständnis und die innere Bereitschaft, die äußerst unangenehme Bürde der Befangenheit und Peinlichkeit dieses Menschseins auf sich selbst zu beziehen und diese bereitwillig auf sich zu nehmen.
Dieser Gedanke Jesu ist in der Tat beispiellos und essentiell zugleich:
Wer die eigene Schuld in vollem Bewusstsein und mit innerem Bedauern trägt, wird dadurch in die Lage versetzt, sich von sich selbst zu distanzieren. Wer sich von seiner Schattenseite distanziert, indem er sich diese täglich mit innerem Bedauern eingesteht (was im ersten Moment als ein Widerspruch erscheint) und deshalb seinem Nächsten gegenüber großzügig handelt, wird eben durch diese Geisteshaltung frei von Schuld.
Insofern liegt in jeder Großzügigkeit gegenüber unserem Nächsten die Großzügigkeit des Lebens bzw. die Barmherzigkeit Gottes gegen uns selbst begründet. Daraus folgt: Wollen wir, dass das Leben uns gnädig begegnet, so müssen wir anfangen, selbst Gnade zu üben. Hierin liegt das Geheimnis des göttlichen Privilegs und des Auserwähltseins. In der Annahme dieser Geisteshaltung werden wir zu Söhnen und Töchtern des Geistes (Gottes), werden wir erst zu wirklichen Geschöpfen unseres menschlichen Daseins.
Aus dem schonungslosen Eingeständnis der eigenen Befangenheit und Unvollkommenheit (äußerlich und innerlich) und aus der Erkenntnis unseres menschlichen Unvermögens resultiert aber auch, dass vordergründige Festlegung oder minutiöse Planung unseres Lebens fragwürdig werden. Sind wir ehrlich zu uns selbst, so vermögen wir nicht das Geringste! So werden wir paradoxerweise im Eingeständnis unserer Unfreiheit und Ohnmacht mächtig und frei.
Im anschließenden Gleichnis vom Turmbau zeigt Jesus auf, welch ungeheure Konsequenz in dem Gedanken liegt, dass jede vordergründig- menschliche Festlegung, jede menschliche Sicherheit, jedes menschliche Wollen und Planen im Grunde genommen nichts weiter ist als eine Trotzgebärde gegen die herrschende Wirklichkeit, eine kleinliche menschliche Illusion, die in ihrem Streben nach äußerer Perfektion die inneren Belange unterdrückt. Doch wenn das Innere Unterdrückung erfährt, wie sollte das Äußerliche dann erhalten werden?