Geistige Verwandtschaft

Die Absage an rein familiäre Bindung steht nicht im Widerspruch zur Nächstenliebe – im Gegenteil: Sie ist deren radikale Erfüllung. Wer sich von der Enge familiärer Vorlieben löst, kann jeden Menschen vorbehaltlos als Bruder, als Schwester, als Nächsten erkennen und lieben.

Eine Betrachtung zu Lukas 14,25–27

Es ging aber eine große Menge mit ihm; und er wandte sich um und sprach zu ihnen:
„Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein. Und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein.“ (Lukas 14,25–27)

Die Szene – ein Gleichnis in sich

Die kurze Notiz des Evangelisten ist von einer stillen Schönheit:

„…und er wandte sich um und sprach zu ihnen.“

Man spürt die Menschenmenge, die Jesus hinterherläuft, die seine Ausstrahlung förmlich aufsaugt, die Nähe sucht – körperlich, emotional, fast greifbar. Genau an diesem Punkt setzt Jesus an. Er greift das tief menschliche Bedürfnis nach Nähe, nach Bindung, nach Zugehörigkeit, nach Familie und Gemeinschaft auf und dreht es radikal um.

Äußerliche Nähe ist nicht echte Nähe. Wer Jesus buchstäblich hinterherläuft, steht ihm deshalb noch lange nicht nahe. Die vielen, die ihm folgten, waren physisch ganz dicht bei ihm – und doch warnt er sie: Wer nicht bereit ist, alles zu „hassen“, was ihn bisher ausgemacht hat, der kann sein Jünger nicht sein. Damit sagt er: Echte Nachfolge entsteht nicht durch räumliche oder familiäre Nähe, sondern allein durch innere, geistige Verbundenheit mit seiner Botschaft. Erst diese Verbundenheit schafft die wahre Gemeinschaft, die er meint.

Eine neue, universelle Verwandtschaft

Je ernsthafter jemand diese geistige Verbindung zu Jesus und seiner Sicht der Welt sucht, desto enger erscheinen plötzlich alle rein menschlichen, familiären oder konventionellen Bindungen. Sie werden als einengend empfunden, weil eine ganz neue Art von Verwandtschaft entsteht – eine universelle Geschwisterlichkeit, die keine Blutsbande mehr kennt und deshalb über jede bisherige Grenze hinausreicht. Diese neue Verwandtschaft steht nicht im Widerspruch zur Nächstenliebe – im Gegenteil: Sie ist deren radikale Erfüllung. Nur wer sich von der Enge familiärer oder gruppenbezogener Vorlieben löst, kann jeden Menschen vorbehaltlos als Bruder, als Schwester, als Nächsten erkennen und lieben.

Jesus und seine leibliche Familie

Die Evangelien zeigen immer wieder, wie Jesus selbst diese Grenze zieht:

  • Mit zwölf Jahren im Tempel:

    Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?“ Lukas 2,49
  • Als man ihm meldet, seine Mutter und Brüder warteten draußen:

    Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? … Wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.“ Markus 3,33–35
  • Sogar seine Verwandten hielten ihn für verrückt und wollten ihn nach Hause zurückholen:

    Als seine Angehörigen davon hörten, machten sie sich auf den Weg, um ihn mit Gewalt zurückzuholen; denn sie sagten: Er ist von Sinnen.“  Markus 3,21.

Jesus lebt vor, was er fordert: Die geistige, hintergründige Bindung steht über der familiären, leiblichen und vordergründigen.

Hass als Befreiung von alten Kategorien

Das Thomasevangelium formuliert den Gedanken noch schärfer:

„Wer nicht seinen Vater und seine Mutter hasst wie ich, der kann mir nicht Schüler sein. Und wer nicht seinen Vater und seine Mutter liebt wie ich, der kann mir nicht Schüler sein.“ (Spruch 101)

„Hassen“ bedeutet hier nicht Gefühlshass gegen Personen, sondern die kompromisslose Ablehnung aller kleinlichen, übernommenen Kategorien und Bewertungen – aller Schubladen, in die wir Menschen (und uns selbst uns) stecken. Es ist der Hass auf das alte, enge Denken in „meine“ und „fremde“ Menschen. Jesus stellt mit seiner Aufzählung (Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern … und sich selbst!) jede Form blutsverwandtschaftlicher oder egozentrischer Festlegung radikal in Frage.

Selbsthass als Weg zur Demut

Der Satz endet mit dem Schockierendsten: „…und dazu sich selbst“. Hier wird klar: Wir sind nicht nur Gefangene unserer Familienrollen und gesellschaftlichen Erwartungen, sondern vor allem Gefangene unseres eigenen kleinen Ichs. „Sich selbst hassen“ heißt deshalb: sich die eigene Befangenheit, die menschliche Kleinkariertheit und Ohnmacht schonungslos einzugestehen. Nur diese ehrliche Betroffenheit schafft echte Demut – und nur Demut öffnet den Raum für eine tiefere Wandlung. Gleichzeitig birgt dieser „Selbsthass“ eine große Sehnsucht: frei zu werden von allen vordergründigen Abhängigkeiten, frei für die universale Liebe.

Das Kreuz täglich tragen.

Deshalb der zweite Satz:
„Und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein.“

Das Kreuz ist hier nicht primär das Leiden um des Leidens willen, sondern das tägliche Berühren und Tragen all dessen, was uns peinlich, unangenehm und beschämend ist – unsere Schwerfälligkeit, die Einsicht unserer Unfreiheit, unsere Befangenheit, Fehlbarkeit und Schuld. Wer das nicht aushält und auf sich nimmt, bleibt in der Illusion eigener menschlicher Größe stecken.

Freiheit durch das Eingeständnis der Ohnmacht

Wer jedoch seine menschliche Begrenztheit mit innerem Bedauern und dem Glauben an deren Sinnhaftigkeit auf sich nimmt und trägt, gewinnt paradoxerweise Distanz zu sich selbst. Diese Distanz macht frei. Und genau in dieser Freiheit wird Großzügigkeit gegenüber anderen möglich – und damit die Erfahrung von Gottes Barmherzigkeit uns selbst gegenüber. Willst du, dass das Leben dir gnädig begegnet, so übe selbst Gnade:

„Selig die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“ Matthäus 5,7

Das Geheimnis der Wandlung

Äußere Veränderung kann man nicht machen – sie geschieht oder geschieht nicht. Echte Wandlung ist immer Frucht einer inneren Auseinandersetzung:

„Nehmt einen guten Baum, so wird auch seine Frucht gut sein.“ Matthäus 12,33

Wir verwandeln uns nicht selbst durch Willenskraft. Wir werden verwandelt – dort, wo wir die Geisteshaltung Jesu annehmen und unser Kreuz (unsere Wahrheit über uns selbst) täglich tragen.

Vom Turmbau und der Illusion menschlicher Planung

Im anschließenden Gleichnis vom Turmbau und vom König, der in den Krieg zieht, zeigt Jesus, wie lächerlich jede rein menschliche Sicherheits- und Perfektionsstrategie wird, wenn wir ehrlich sind und unserer menschlichen Realität ins Auge sehen. Jede noch so durchdachte Lebensplanung ist im Grunde eine Trotzgebärde gegen die Wirklichkeit unserer Ohnmacht. Wer das erkennt, hört auf, sein Leben krampfhaft kontrollieren zu wollen – und gewinnt gerade dadurch jene Freiheit, die Jesus meint.

Fazit: Die Geburt der wahren Geschwisterlichkeit

Erst wenn wir bereit sind, unsere alten Bindungen und unser altes Selbstbild loszulassen – nicht durch äußere Trennung, sondern durch inneres „Hassen“ der Enge – entsteht Raum für die eine, universale Familie:

„…alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt.“ Friedrich Schiller – Ode an die Freude

In dieser Geisteshaltung werden wir wirklich frei – und erkennen unsere wahre Verwandtschaft in Christus.

Elmar Wieland Vogel
Elmar Vogel

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