Warum Gott das Leid auf der Welt zulässt
English Version
Vielen Menschen fällt es schwer an die Existenz eines guten Gottes zu glauben, da die Welt augenscheinlich alles andere als gut ist. Wenn tatsächlich ein Gott die Welt erschaffen hat, und wenn dieser Gott gut, allwissend oder sogar allmächtig ist, weshalb geschieht dann so viel Böses und Ungerechtes in der Welt? Weshalb greift ein allmächtiger Gott nicht ein und bringt seine Schöpfung in Ordnung? Ist Gott doch nicht allmächtig oder ist er am Ende gar ein Sadist, der die Menschen leiden und sterben sehen will? So oder ähnlich lauten die Argumente, die gegen einen Glauben an Gott, oder zumindest an einen guten Gott sprechen.
Man nennt die Auseinandersetzung mit der Frage, warum Gott das Leid in der Welt zulässt, auch die Theodizee-Frage. Der Begriff Theodizee kommt aus dem Griechischen theodikía von altgriechisch theós = Gott und díkē = Gerechtigkeit. Es geht also um die Frage, inwieweit man Gott, angesichts der Ungerechtigkeit in der Welt überhaupt als gerecht betrachten kann. Oder anders gesagt, es geht um den Versuch, Gottes Handeln zu rechtfertigen.
Der folgende Beitrag gibt Antworten auf die Frage, warum Gott das Leid in der Welt nicht verhindert, und zwar im direkten Bezug zu den Aussagen der Botschaft Jesu. Wer den Ausführungen unvoreingenommen folgt, dem wird sich eine neue Sichtweise auf Beschwerliches, Leidvolles und Ungerechtes eröffnen. Und wer sich diese Sichtweise zu eigen macht, wird sein Leben neu überdenken und anders verstehen können als bisher.
Tatsächlich ist eine befriedigende Antwort auf die Frage, wozu Gott das Leid in der Welt zulässt, ausschließlich auf Basis der Lehre und der Passion Jesu möglich. Keine andere Lehre gibt diese Antwort so schlüssig und überzeugend wie Jesus es tut. Finden wir zum tiefen Sinn der Lehre und der Passion Jesu, so finden wir damit auch zu einer grundlegenden Beantwortung dieser Frage. Die Beantwortung erfolgt dann allerdings nicht mehr nach einem Glaubensgrundsatz oder Dogma, sondern durch eine ganz persönliche Einsicht in die Richtigkeit der Lehre Jesu. Sie erfolgt insofern, als ihre Aussagen für schlüssig, richtig und glaubwürdig erkannt werden.
Eine Botschaft der Erlösung
Tatsächlich ist Jesus von Nazareth der erste und der einzige Lehrer, der das Problem der Theodizee sowohl in seiner Botschaft als auch in seiner Handlungsweise unmittelbar berührt. Als Erlöser kann Jesus insofern gelten, als er dieses Problem nicht nur verbal, sondern auch körperlich berührt und es in seiner Passion auf unerhörte und erschütternde Weise löst. Ob die Heilung Kranker, seine Predigt vom Reich Gottes oder aber die bereitwillige Annahme seiner Passion – alles ist Ausdruck einer Mission, die nur ein Ziel hat; nämlich das Leid der Welt durch den Geist zu überwinden. Dabei ist die Erlösung, die er den Menschen überbringt, nichts Fernes, Jenseitiges oder Zukünftiges, sondern sie geschieht unmittelbar heute, hier und jetzt, wie er sagt:
Jesus sprach: Sollte Gott nicht Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen und sollte er’s bei ihnen lange hinauszögern? Ich sage euch, er wird ihnen Recht schaffen, unverzüglich.
Lukas 18, 7-8
Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. Amen, amen, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören; und die sie hören werden, die werden leben.
Johannes 5, 24-25
Die Erlösung beruht darauf, dass Jesus in seiner Lehre eine Geisteshaltung vermittelt, durch die wir, wo wir sie annehmen, mit unserem Leben wieder versöhnt werden. Dabei ist die Versöhnung mit unserem Leben die Versöhnung mit Gott selbst. Programmatisch ist hier sein Aufruf:
Ändert euren Sinn, denn das Reich Gottes ist jetzt ganz nah bei euch.
Matthäus 3,2
Das heißt: Denkt um! Seid bereit, die Einstellung eurem Leben gegenüber grundlegend zu ändern. Lasst euch von der Botschaft vom Reich Gottes berühren.
Ein universelles, allumfassendes Gottesbild
Zunächst muss man verstehen, dass Jesus in seiner Lehre ein universelles Gottesbild vermittelt. Nur auf Basis eines Gottesbildes, das alle Geschehnisse umfasst, ist eine befriedigende Beantwortung der Theodizee-Frage überhaupt möglich. Das Gottesbild Jesu ist frei von negativer, menschlicher Launenhaftigkeit, wie man das in den Gott des Alten Testaments hineininterpretieren konnte, der dort auch als ein hassender und eifernder Gott beschrieben wird. Gott erweist sich in der Botschaft Jesu als ein treuer und liebender Vater. In seinem Sohn macht er uns zu Gotteskindern und setzt seine ganze Leidenschaft daran, das verlorene Vertrauen des Menschen wiederzugewinnen. Vertrauen heißt, die Gewissheit zu erlangen, dass Gott ausnahmslos alle Dinge wirkt und uns somit alle Geschehnisse zum Besten dienen:
Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach dem Vorsatz berufen sind.
Römer 8, 28
Allumfassend ist das Gottesbild Jesu insofern, als es unsere Begegnungen mit Freund und Feind, Freude und Leid, Schwäche und Stärke, Leben und Sterben, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit usw. als gleichbedeutend betrachtet. Das heißt, Jesus verwirft das menschlich Mangelhafte nicht mehr, sondern er verleiht ihm in seiner Botschaft eine essenzielle Bedeutung.
Das ist der neue, der außergewöhnliche und universelle Kern seiner Botschaft, dass auch das Ungeliebte unsere Liebe erfahren muss, wenn wir vollkommen sein wollen, wie er sagt:
Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.« Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr nur liebt, die auch euch lieben, welchen Lohn wollt ihr dafür erhalten? Tun nicht dasselbe auch die Steuereintreiber? Und wenn ihr euch nur gegenüber euren Brüdern freundlich verhaltet, was tut ihr Außergewöhnliches? Tun die Steuereintreiber nicht dasselbe? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.
Matthäus 5, 43-48
Man beachte den Schlusssatz, in dem Jesus das Wesen Gottes als vollkommen bezeichnet. Vollkommen ist, was „vollständig“ ist, also etwas, das alle Dinge ohne Unterschied umfasst und nichts ausschließt.
Nur ein allumfassender und universeller Gott vermag alle Dinge zu lieben, da er durch niemanden und durch nichts behindert, verletzt oder zerstört werden kann, sondern in allen Dingen Förderung erfährt.
Christus überwindet die Dualität
Wenn wir es realistisch bedenken, dann müssen wir zugeben, dass unsere menschliche Existenz auf dieser Welt ohne das Gegenteilige gar nicht möglich wäre: Ohne Tod kein Leben, ohne Schlaf kein Wachsein, ohne Dunkelheit kein Licht usw. Die ganze Wahrheit ist unteilbar: Gäbe es nur Licht, würden wir das Licht nicht als solches empfinden. Auf unser menschliches Leben bezogen heißt das: Unser eigenes Leben kann im Sinne Jesu nur vollkommen werden, wenn wir ausnahmslos alle Dinge in unser Leben einschließen: Krankheit, Schwäche, Feindschaft, Ungerechtigkeit, Scheitern, Sterben, Leid und Tod.
Alle diese negativen Erscheinungen sind wesentliche Bestandteile unserer menschlichen Wirklichkeit und aus diesem Grund sollen wir sie lieben und sehnsuchtsvoll nach ihrer Bedeutung für uns suchen. Diese Suche nach Sinn und Bedeutung des Sinn- und Bedeutungslosen ist die einzige relevante Suche überhaupt, da das Gesuchte (Gott/Geist/Sinn) genauso sehnsüchtig von uns gefunden werden will – weil Geist ebenso nach uns sucht, wie wir nach Geist (Geist/Sinn) suchen.
Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.
Matthäus 7,7
Lieben bedeutet hier nicht, dass wir diese Dinge an sich fördern und gut finden sollen, sondern es bedeutet, dass wir sie vertrauensvoll und bereitwillig auf uns nehmen sollen, wenn wir ihnen begegnen oder ihnen ausgeliefert sind. Denn nur durch unser vertrauensvolles und bereitwilliges Annehmen kann das bisher Gehasste und Ungeliebte Sinn und Bedeutung und somit eine tiefgreifende Wandlung erfahren.
Da sprach er zu ihnen allen: Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten.
Lukas 9, 23-24
Ein individuelles Gottesbild – Das Objektive im Subjektiven
Auch wenn man sagen kann, dass das christliche Gottesbild ein allumfassendes und universelles ist, so beantwortet Jesus die Theodizee-Frage dennoch rein subjektiv und individuell. Das heißt, er beantwortet die Frage nach dem Leid der Welt nicht in einem politischen oder kollektiven Sinn, denn ihre Beantwortung hängt ab vom individuellen „Glauben“ – sie hängt ab von der persönlichen Einsicht und Einwilligung jedes Einzelnen in seine Botschaft.
Seine ganz persönliche Antwort auf das Leid der Welt hat uns Jesus in seiner Passion gegeben und diese Antwort gibt er jedem Einzelnen, der sie für wahr hält, glaubt und der gewillt ist, sie anzunehmen. Seine Antwort lautet:
Jesus willigte ein in seine Passion, weil er über die geistige Fähigkeit verfügte, auch im Wirken seiner Feinde den Willen Gottes zu erkennen:
Und ging hin ein Stück, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst.
Matthäus 26, 39
Gewissermaßen „macht“ Jesus, durch diese Einwilligung in seine Passion, Gott zur Ursache von Unrecht, Leid und Tod. Gott wiederum, der seinem Prinzip nach vollkommen ist und insofern Ursache aller Dinge sein muss, wird durch die vertrauensvolle Einwilligung des Sohnes unversehens zum Urheber von etwas, das er seinem Wesen nach nicht ist. Denn Gott ist das Sein selbst und er ist die Ursache des Lebens an sich und dieses Prinzip ist ungeteilt, das heißt, es ist ohne Alternative oder Gegenpart.
Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet; und jede Stadt oder jedes Haus, das mit sich selbst uneins ist, wird nicht bestehen.
Matthäus 12, 25
Gott ist das Leben selbst und es existiert in ihm kein Widerspruch, insofern ist es unmöglich, dass in Gott gleichzeitig die Ursache von Unrecht, Leid und Tod liegen können. Daher müssen diese Bereiche einen Bedeutungswandel erfahren, wenn sie auf Gott treffen. Ebendiesen Bedeutungswandel haben sie dadurch erfahren, dass Jesus sie vertrauensvoll aus der Hand Gottes entgegengenommen hat, wodurch er sie mit Gott in Berührung brachte und sie so mit Geist, Sinn und Bedeutung erfüllte.
Hierin liegt die tiefe Bedeutung der Aussage: Jesus hat für uns gelitten und ist für uns gestorben. Jesus wusste, dass jenes Leid, das ein Mensch im Vertrauen auf Gott auf sich nimmt, seine Sinnlosigkeit verlieren muss, ja, dass es nur auf diese Weise zu einem neuen und höheren Sinn finden kann.
Gott, der verborgene Sinn im Sinnlosen
»Gott ist Geist«, so lautet die Definition Jesu. (Joh 4,24) Aber was heißt das? Es besagt, dass nur der Geist es vermag, allen Dingen einen Sinn und eine Bedeutung zu verleihen, insbesondere aber den augenscheinlich Geist- und Sinnlosen. Hinsichtlich der Beantwortung der Theodizee-Frage bedeutet dies, dass das Geistlose, das wir im Vertrauen in den Geist (auf Gott) auf uns nehmen, von Geist und Sinn durchdrungen wird, wodurch es unmittelbar zu Gott wird. Das ist das göttliche Prinzip der Sinnerfüllung.
Umgekehrt gilt: Geschehnisse, die wir aus Misstrauen gegen Gott (gegen das Leben) als unannehmbar ablehnen, müssen sinnlos bleiben, da wir die Macht des Geistes ausschließen, der alles mit Sinn erfüllt, was sich mit Sinn erfüllen lässt. Mächtig sind wir also dort, wo wir uns in der Lage sehen, Gott in ausnahmslos allen Dingen zu erkennen, die uns anhaften oder begegnen. Ohnmächtig hingegen sind wir, wo wir seine Macht und Gegenwart kategorisch ausschließen. Dieses geistige Prinzip hat Jesus seinen Jüngern vor seiner Gefangennahme verdeutlicht:
Darum liebt mich mein Vater, weil ich mein Leben lasse, auf dass ich es wieder nehme. Niemand nimmt es gegen meinen Willen, sondern ich lasse es freiwillig. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wieder zunehmen. Dieses Gesetz habe ich von meinem Vater empfangen.
Johannes 10, 17-18
Die Passion Jesu – Vakuum des Geistes
Zur Verdeutlichung der Wirkungsweise des Geistes im Kontext der Beantwortung der Theodizee-Frage folgendes Gleichnis:
Unter einem Vakuum versteht man den Unterdruck von Luft/Gas innerhalb eines Raumes/Gefäßes. Ein Vakuum kann immer nur so groß sein, wie es die Stabilität des Gefäßes zulässt, in dem das Vakuum erzeugt wird. Ist der Unterdruck zu groß, nimmt das Gefäß Schaden und es folgt der Druckausgleich als Notwendigkeit. Bezeichnenderweise existieren sowohl in der hebräischen als auch in der griechischen Sprache Entsprechungen der Begriffe Geist und Luft. So der Begriff „ruach“ = Luft, Geist, Wind, Atem, Duft im Hebräischen und der Begriff „pneuma“ = Geist, Hauch, Luft, Atem im Altgriechischen. In ebendiesen beiden Sprachen sind uns die Urtexte der heutigen Bibel überliefert.
Anknüpfend an das Beispiel vom Luftvakuum, kann man den Gedanken der Theodizee sinnbildlich auf das Geistige übertragen und sagen: Jesus hat in seiner Lehre und in seiner Passion ein Vakuum des Geistes (Gottes) erzeugt, das dieser ausfüllte, als das Gefäß zerbrach. Oder anders gesagt, die Abwesenheit von Geist und Sinn in einer sinnlosen Situation „nötigt“ den Geist herbei, sofern man um das Gesetz des geistigen Vakuums weiß, nämlich dass der Druckausgleich spätestens dann erfolgen muss, wenn das Gefäß zerbricht. Der neue atmosphärische Druck ist dann der neue normale – „außerhalb“ des alten Gefäßes in einem „größeren“ Raum. Der „größere“ Raum kann hier als ein Sinnbild für das Transzendente und Neue gelten, das über das Kleine und Alte hinausweist. Aber er ist auch ein Sinnbild für eine neue Normalität, eine neue Schöpfung:
In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, dann hätte ich nicht zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, so will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf dass ihr seid, wo ich bin.
Johannes 14, 2-3
In seiner Passion begibt sich Jesus bewusst in den Zustand eines geistigen Vakuums, nämlich in einen Zustand der Abwesenheit Gottes – einen Zustand der Geistlosigkeit, damit dieser mit Geist erfüllt werden kann.
Der Tod ist ein Zustand der Abwesenheit Gottes. Doch Gott durchdringt und erfüllt alle Dinge, die sich von ihm erfüllen lassen. Gott ist alles in allem und darum „muss“ Gott solch einen Zustand der Gott – und Geistlosigkeit ausfüllen, und zwar durch und mit sich selbst, andernfalls wäre er nicht Gott. Jesus wusste um diese Gesetzmäßigkeit, daher schließt er mit den Worten:
Dieses Gesetz habe ich empfangen von meinem Vater.
Joh 10, 17-18
Die Überwindung des äußeren Bösen
Gott steht dem Bösen keineswegs ohnmächtig gegenüber, sondern er sucht in Jesus Christus bewusst die Berührung und die Konfrontation mit dem Bösen, um es zu überwinden und das heißt, um es gut – um es zu Gott zu machen. Nur das, was durch den Geist überwunden ist, das ist wirklich „gut“ geworden. Und all das, was von Gott „berührt“ wird, das wird selbst zu Gott.
Das Böse hingegen ist das, was sich von Gott nicht berühren lassen will, und insofern muss es für uns geistlos und sinnlos bleiben. Geist- und sinnlos sind die Geschehnisse jedoch nicht an sich, sondern sie sind es hinsichtlich unserer inneren Abwehr und unseres Unwillens. So bewertet Jesus das Böse, das ihm selbst widerfährt, nicht abschließend als böse, sondern er versteht es als etwas, das durch seine vertrauensvolle Haltung einen Sinn erfährt, wodurch es überwunden ist. Denn was durch den Geist überwunden wird, das ist unverhofft zu etwas Gutem geworden. Ebendiese Ursächlichkeit erklärt Jesus angesichts seiner bevorstehenden Passion:
Nun aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand unter euch fragt mich: Wo gehst du hin? Sondern weil ich solches geredet habe, ist euer Herz voller Trauer geworden. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist euch gut, dass ich hingehe. Denn wenn ich nicht hingehen, so kommt der Tröster nicht zu euch; so ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.
Johannes 16, 5-7
Man beachte die grundlegende Aussage Jesu: „Es ist euch gut, dass ich hingehe …“ Aber wie kann in Verrat, Unrecht, Folter, Hinrichtung und Sterben eines Menschen etwas Gutes liegen? Wie konnte Jesus dem grauenvollen Geschehen, das ihm bevorstand, etwas Gutes abgewinnen? Die Antwort gibt er selbst: „Denn wenn ich nicht hingehen, so kommt der Tröster nicht zu euch …“ Was bedeutet das? Durch die Aufopferung Jesu wird ein neues geistiges Bewusstsein entstehen, das daraufhin allen Menschen zur Verfügung steht, die in menschlichen Notsituationen nach geistigem Trost suchen.
Gewissermaßen wird Gott durch die bereitwillige Passion Jesu zu einer neuen Schöpfung genötigt. Es ist das Vertrauen Jesu in die Allmacht Gottes und es ist die unerschütterliche Liebe, in der Jesus sich hingibt, die Gott seinerseits zu einer neuen Schöpfung „nötigt“. So ist durch die Passion Jesu ein neuer Mensch erschaffen worden. Und dieser neue Mensch ist Christus, der Überwinder. Christus verleiht allen, die sehnsüchtig suchen, diese, seine neue Identität und wer sie annimmt, nimmt die Gestalt des Gottessohnes an – wird selbst zu einem Kind (Sohn) Gottes.
Darum, ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!
2. Korinther 5,17
In Jesus Christus zeigt Gott unmittelbar auf, wie er das Böse überwinden würde, wenn er Mensch wäre. Da Gott nicht Mensch ist, musste er Mensch werden, damit wir Menschen dieses Prinzip der Überwindung des Bösen erfahren können. In Jesus Christus wird Gott Mensch und konfrontiert sich selbst mit dem Bösen, indem er es auf sich nimmt, um es mit Geist und Sinn zu erfüllen:
Es ist euch gut, dass ich hingehe …
Johannes 16, 7
Der verborgene Sinn im bisher Sinnlosen verleiht allem sinnlosen Geschehen Sinn und Bedeutung. Alles Geistlose und Sinnlose, das auf diese Weise durch Gott (Geist) erfüllt wird, muss nun gut werden. Und so wie Jesus um Sinn und Bedeutung seines eigenen Leidens und Sterbens wusste, sollen auch wir auf den Sinn unseres eigenen Leides vertrauen. Denn durch seine bereitwillige Hingabe am Kreuz, sollte deutlich werden, dass dieser Sinn jetzt überall dort einkehren wird, wo wir ihn vertrauensvoll suchen.
Deshalb nahm Jesus Unrecht, Leid und Tod auf sich, damit nun auch wir darauf vertrauen können, dass der Sinn in allen Geschehnissen innewohnen will, wo wir ihn ersehnen und einlassen. In Wahrheit, wohnt der Sinn von jeher in allen Geschehnissen, da ohne Gott (Geist und Sinn) nichts sein kann und der Geist alles durchdringt und mit Leben erfüllt. Jegliche Existenz, alles Leben hängt am Sinn. Doch solange wir dies nicht glauben wollen, haben wir keinen Anteil an einem Leben jenseits der Geistlosigkeit und des Unsinns in der Welt.
Alles vormals Niedere, welches Geist und Sinn empfangen hat, das ist auch lebendig geworden. Dies ist das universelle Schöpfungsprinzip, dass Gott aus Nichts etwas erschafft. Das Sinnlose, Geistlose, Niedrige, Schmutzige, Schmachvolle, Verwerfliche und Verdammte – das ist von jeher der „Stoff“ aus dem Gott neues Leben erschafft.
Da machte JHWH der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so wurde der Mensch ein lebendiges Wesen.
Genesis 2,7
Die Überwindung des inneren Bösen
Wer die Botschaft Jesu verinnerlicht, wird anfangen, die Welt in einem neuen Licht zu betrachten. Das, was wir bisher abschließend als das Böse oder das Schlechte bezeichneten, hört im Sinne Jesu auf böse und schlecht sein.
Denken wir dabei nur einmal an eigene beschwerliche, peinliche oder auch gefährliche Situationen und Erfahrungen, durch die wir grundlegend gereift sind oder durch die wir etwas Wichtiges erkannt oder gelernt haben, etwas, das wir im Nachhinein nicht mehr missen möchten. Unsere menschlichen Bewertungen und Festlegungen in Gut und Böse sind also keineswegs so ultimativ, und eindeutig wahr, wie wir oft meinen. Meist sind sie zeitbedingt und erscheinen uns mit zeitlichem Abstand bereits verändert und manchmal dann sogar gegenteilig. Wie oben erklärt, fordert uns Jesus dazu auf, dem Feindlichen, Bösen und Schlechten gegenüber, eine neue, veränderte Haltung einzunehmen, indem wir es nach Gottes Willen an und auf uns nehmen sollen. Aber dies gilt nicht nur für das Böse, das uns von außen begegnet, sondern insbesondere auch für das Böse, das uns aus unserem Innern droht, also das Böse, das uns selbst anhaftet.
Die Theodizee-Frage, warum Gott das Böse in der Welt zulässt, muss also erweitert werden auf das Innere des Menschen. Denn der Ursprung jenes Bösen, das Menschen einander immer wieder antun, liegt nicht irgendwo außerhalb, sondern er liegt vielmehr in uns selbst. Dieses innere Böse wird auch als die Ursünde des Menschen bezeichnet. Unter dieser Ursünde versteht man alle menschlichen Schwächen, wie Irrtum, Ungerechtigkeit, Hass, Neid, Missgunst, Rachsucht, Niedertracht, Unbarmherzigkeit etc.
Doch welcher Sinn könnte in unserer menschlichen Schwäche und in unserer Fehlbarkeit liegen? Die Antwort Jesu ist schlicht:
Der Mensch soll Vergebung und Barmherzigkeit üben, er soll gnädig mit den Fehlern seiner Mitmenschen verfahren, eben weil er selbst der Vergebung, der Barmherzigkeit und der Gnade bedarf:
Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.
Matthäus 5,7
Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch messen.Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, und bemerkst nicht den Balken in deinem eigenen Auge? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und dabei, ist ein Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!
Matthäus 7, 1-5
Damit wir fähig werden, anderen Menschen Schuld zu vergeben, müssen wir selbst einsehen und anerkennen, schuldig zu sein. Das heißt, wir müssen bereit werden, Selbsterkenntnis zu üben. Und hierin liegt der tiefe Sinn unserer menschlichen Fehlbarkeit begründet. Was Sinn gefunden hat, das hat Geist gefunden und was Geist gefunden hat, das hat Gott gefunden. Was Gott gefunden hat, das hat aufgehört, gottlos zu sein. Und was aufgehört hat, gottlos zu sein, das hat aufgehört, unser Schaden und das heißt, es hat aufgehört, Sünde zu sein. Auf dieser Ursächlichkeit beruht die Lehre Jesu von der grundlegenden Vergebung unserer Schuld durch Gott. Unsere Schuld ist insoweit grundlegend vergeben, als wir selbst bereit werden, denen zu vergeben, die sich an uns schuldig machen, eben weil wir um unsere eigene Fehlbarkeit wissen.
Und vergib uns unsere Schuld, wie wir auch denen vergeben, die an uns schuldig werden.
Mat 6, 12
Denn wenn ihr den Menschen ihre Fehler vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben, wenn ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.
Mat 6, 14-15
Auferstehung zu neuem Leben
Im Gleichnis vom Weizenkorn verdeutlicht Jesus Sinn und Bedeutung seiner eigenen Passion. Hier legt er sinnbildlich dar, dass alles menschliche Sterben in dieser Welt einen Sinn und eine Bedeutung erfahren muss, genauso wie dem Sterben in der Natur von jeher Sinn und Bedeutung zukommt.
Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde hinabfällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
Johannes 12, 24
Nur soweit auch unser Sterben eine Notwendigkeit erfährt, kann unser Leben eine grundlegende Förderung erfahren. Und diese Förderung besteht darin, dass es einem neuen, transzendenten Lebensverständnis dient. Jesus beantwortet also auch hier die Frage, wozu Gott das Leid in der Welt zulässt, indem er jeglichem Sterben in dieser Welt eine grundlegende Bedeutung zuschreibt. Dabei steht und fällt die Bedeutung von Tod und Sterben mit dem Wissen um das Transzendente – um das, was über das Zeitliche und Vordergründige hinausweist:
… wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.
Johannes 12, 24
Genauso wie es uns die Vorgänge in der Natur lehren, so soll, der Lehre Jesu nach, jedes Opfer und jede bereitwillige Hingabe dem Werden neuen, größeren Lebens dienen. Ob wir selbst an solchem neuen Leben teilhaben, hängt am Vertrauen, das uns fähig macht, altes Leben im Sinne Jesu bereitwillig hinzugeben und zu lassen. Denn lassen müssen wir unser zeitliches Leben ja ohnehin. Doch solange wir die Wirklichkeit unserer Sterblichkeit nicht wahrhaben wollen, solange wir sie negieren und ignorieren und solange wir festhalten wollen, was wir nicht festhalten können, kann unser Sterben auch keinen Sinn erfahren, denn wir stellen uns gegen die Wahrheit unserer Sterblichkeit. Jesus lehrte „wie“ unser Sterben jenen Sinn erfahren kann, damit es Unsterblichkeit erlangt.
Die Überwindung des Todes beruht auf der gefundenen Bedeutung der Umstände unseres Sterbens
Jegliches Loslassen, Verzichten und Sterben, muss um Einsicht in eine unumstößliche Wahrheit geschehen. Das heißt, ebendort, wo unserem äußeren Sterben eine transzendente Bedeutung zukommt, da geschieht unser Sterben nicht mehr vergebens. Jesus hatte in seinem Leiden und Sterben für sich eine Notwendigkeit erkannt, nämlich dass durch seinen Tod ein neues geistiges Bewusstsein geschaffen wird, das allen Menschen zugutekommt, die danach suchen. Sein einzelnes Opfer, sein Leiden und Sterben trug „Frucht“ für viele – für all jene, die nun ihrerseits ihr Leben in seinem Geist hingeben und lassen können, wodurch es ebenfalls Erneuerung durch den Geist erfährt: Das ist das Prinzip der Auferstehung. Die Auferstehung Jesu ist die Auferstehung eines Lebensverständnisses, welches bereits hier und jetzt über das Zeitgebundene und Vordergründige hinausgelangt ist:
Diejenigen, die sagen: „Der Herr ist zuerst gestorben und dann auferstanden“, sind im Irrtum. Denn er ist zuerst auferstanden und dann gestorben. Wenn jemand nicht zuerst die Auferstehung erwirbt, wird er sterben.
Philippusevangelium Spruch 21
Es ist ein zeitloses, ein ewiges Lebensverständnis, das durch keine Sache der Welt geschmälert oder behindert werden kann, sondern das nun durch alle Geschehnisse Förderung erfährt, selbst durch Ungerechtigkeit, Leiden und Sterben, wie es Jesus lehrte:
Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, selbst wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nicht mehr sterben. Glaubst du das?
Joh 11, 25, 26
Die Theodizee-Frage ist damit keineswegs erschöpfend beantwortet doch dieser Beitrag konnte vielleich einen Eindruck von der gedanklichen Fülle der Botschaft Jesu vermitteln. Auch möchte ich den Leser nicht ermüden. Daher freue ich mich auf kritische Fragen und Kommentare, die ich hier gerne direkt beantworten werden. Und so schließe ich mit den Worten Jesu:
In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.
Johannes 16, 33
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