Als die Zeit noch reichlich

Als die Zeit noch reichlich
war keine Zeit zu denken.
Jetzt, da sie unbegreiflich,
will keiner sich versenken,
in das Eventuelle,
in das Bedeutungschwere.
Nun atmet jede Zelle
nackte Sinnesleere.

Als der Sinn noch offen,
da war er schwer beladen,
mit Wünschen und mit Hoffen
und ignoriertem Schaden,
den er bereits genommen,
doch ohne es zu wissen,
vom Sinnesrausch benommen
- das Gefäß gerissen.

Als das Gefäß noch voll
mit leichtem Spiel und Tand,
da empfand man keinen Groll
gegen Volk und Vaterland,
gegen die verführte Welt,
die noch jeden Sinn geglaubt,
den man ihr vor Augen stellt
und ihr den Zauber raubt.

Elmar Vogel am 26.2.2023
Audiodatei: Als die Zeit noch reichlich

Es ist ein Schnee gefallen

Es ist ein Schnee gefallen,
und es ist noch nicht Zeit.
Man wirft mich mit dem Ballen,
der Weg ist mir verschneit.
Mein Haus hat keinen Giebel,
es ist mir worden alt;
zerbrochen sind die Riegel,
mein Stüblein ist mir kalt.

Ein schwarzer Schnee wird fallen,
denn es ist an der Zeit.
Dann wird ein Ruf erschallen:
„Mach dich zum Gang bereit!“
Hinauf in höchste Sphären,
wo Götter sind vereint,
in Freuden zu verzehren,
das Brot, das hier beweint.  

Ein roter Schnee geht nieder,
ein Schnee so rot wie Blut.
Da kehret nimmer wieder,
was je darunter ruht.
Er decket alles Leben,
als wie ein dunkles Grab.
Die ganze Welt muss beben,
wenn alles fährt hinab.

Wohlan zu dieser Stunde,
wo man noch scherzt und lacht,
da bringe ich die Kunde,
von allertiefster Nacht.
Wie ists dem Menschen bange,
der all das tragen wird.
Drum bitte und verlange,
dass keiner sich verirrt. 

Der Tag neigt sich dem Ende,
schon bricht die Nacht herein.
Hier steh ich und verschwende
das Brot, das Salz, den Wein,
um noch einmal zu sagen,
dass alle Not und Qual,
Verzweiflung, Angst und Fragen,
erfüllt in Tag und Zahl.

Ach Herr lass dich‘s erbarmen,
dass ich so elend bin,
und schließ mich in dein Armen,
so fährt der Winter hin.
Der Winter und die Nächte,
die kalt und ohne Licht.
So lehr mich, dass ich möchte,
erschauen dein Gesicht.

Thematisch angelehnt an einen Liedtext von 1467 : “Es ist ein Schnee gefallen” sowie die Apokalypse des Johannes und “A hard rain’s gonna fall” von Bob Dylan.

Fatum

Der Schächer steht verklärt im Mondenschein,
er hat sein nächtlich Tagwerk schon vollbracht.
Ein schwarzes Auge fängt sein Lächeln ein
und speit es wieder aus vertausendfacht.

Der trübe Tau gerinnt zu Blut und Eis
und Monde stehen fahl und blass im Tageslicht.
Die künft‘gen Nächte sind jetzt kalt und weiß,
und blanke Stähle harren ihrer Pflicht.

Das Spinnrad treibt voran der Pferdefuß.
Aus jedem Halm und jeder Nadel Stroh,
schafft er gedieg‘nes Gold im Überfluss.
Des Zweifels Kerker liegt im Nirgendwo.

Ein neues Evangelium hat gekalbt,
millionenfach gelegt in Batterien,
und jeder Leichnam wird verzückt gesalbt,
um seiner eignen Marter zu entflieh‘n.

Elmar Vogel am 7. Mai 2020

Zwei schwarze Schwäne

Rätselhafter Traum aus dem Jahr 1996

Zu meiner Rechten,
hoch am grauen Himmel fechten
im Flug zwei schwarze Schwäne.
Im Kampf die Hälse hart verschränkt,
gleich einem Wappentier verbunden –
vom Kampf geschunden und gekränkt.
Der eine löst sich, flieht zur mir auf festen Grund,
berührt den Weg, nimmt menschliche Gestalt an und
-in enger schwarzer Tracht und glänzendem Gewand-
hat mir den Rücken zugewandt,
setzt seinen Weg rasch fort –
der Weg, auf dem ich selber stehe.
Ich blicke ihm verwundert nach und sehe,
wie er am Rücken klaffend wund,
dort, wo der eine Flügel stand,
rinnt eine rote Träne.

Dresden am 3. Februar 2021

Im Zusammenhang mit der Coropandemie las ich 2021 einen Bericht über das Phänomen des schwarzen Schwanes. Ich erfuhr, dass man unter einem schwarzen Schwan ein unvorhersehbares Ereignis versteht, das über die Erwartungen an eine solche Situation hinausgeht und das potenziell schwerwiegende Folgen hat.

Angeregt von diesem konkreten Bezug inspirierte mich dieses Traumbild von 1996 zu dem obigen Gedicht und den beiden Illustrationen. Die Bilder wurden durch Midjourney generiert und teilweise mit Adobe Photoshop nachbearbeitet.