Von dort wird er kommen, zu richten …

Wenn Vergebung der Dreh- und Angelpunkt der Botschaft Jesu ist, wozu dann ein Jüngstes Gericht und inwiefern werden wir dann gerichtet? Eine erste Antwort darauf lautet: Weil alle Entzweiung mit Gott begrenzt ist. Das Begrenzte ist aber nicht das Ewige und Zeitlose. Die Sphäre des Geistes (Gottes) ist die zeitlose und unbegrenzte und außerhalb dieser existiert nichts Bleibendes. Das Begrenzte endet eines Tages, das Ewige und Zeitlose hingegen ist das Immerwährende. Soweit wir begrenzt denken und handeln, werden wir selbst ein Ende finden müssen.

Das Jüngste-Gericht – Was ist das?

English version

Jesus redete vom Jüngsten Gericht, daran besteht kein Zweifel.
Im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt es: Von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten. Doch was darunter zu verstehen ist, wird von vielen eher nach menschlichen Vorstellungen gedeutet und verfehlt damit den Geist der Botschaft Jesu. Um den drohenden und unerbittlichen Charakter des Jüngsten Gerichts zu unterstreichen, bedient man sich vielfach der Schilderungen aus dem Buch der Offenbarung. Dass es sich bei der Bildsprache der Offenbarung um eine mystische Schau von Visionen handelt, deren Sinnbilder einer Interpretation – wie übrigens auch die Gleichnisse Jesu – bedürfen, ist dabei den wenigsten bewusst, weshalb viele sie wortwörtlich nehmen. Was uns Jesus mit seinen Hinweisen auf das Jüngste Gericht verdeutlichen wollte, erschließt sich uns erst aus dem inhaltlichen Zusammenhang seiner Lehre und aus den Umständen seiner Passion. Das bedeutet, alle Inspiration und Interpretation, die uns die Apostel in ihren Schriften hinterlassen haben, können nur auf Grundlage der Worte und der Handlungsweise Jesu eine schlüssige Deutung erfahren. Jede Darstellung, die nicht den inhaltlichen Aussagen der Botschaft Jesu Rechnung trägt, verfehlt den Geist des Evangeliums.


Gott – die unteilbare Einheit

Das Evangelium, oder die gute Nachricht, wie es übersetzt heißt, besagt, dass Gott alle Schuld vergeben „will“. Warum ist das so? Weil Gott die Vergebung selbst ist, und das bedeutet, dass „in“ Gott so etwas wie Schuld und Strafe nicht existieren. Würden in Gott Schuld und Strafe existieren, so wäre Gott geteilt, nämlich in einen guten und einen schlechten – in einen schuldigen und einen unschuldigen Teil. Gott aber ist in und mit sich selbst eins, das heißt Gott ist ungeteilt und ohne Widerspruch. Und was immer zu Gott gelangen will, das muss selbst eins werden und sein. Denn Gott ist ja die Wahrheit selbst und diese ist unteilbar, wie dies auch die biblischen Texte verdeutlichen:

Höre, Israel, der JHWH, unser Gott, ist ein einiger Gott.

5. Mose 6

Und Jesus unterstreicht diese Aussage in einer gegenteiligen Metaphorik:

Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet; und jede Stadt oder jedes Haus, das mit sich selbst uneins ist, wird nicht bestehen.

Matthäus 12,26

Und in eben diesem Sinne verdeutlicht Jesus, dass Gott selbst nicht richtet:

Denn der Vater richtet niemand, sondern hat alles Gericht dem Sohn übergeben.

Johannes 5,22

Das ist die Konsequenz des oben Gesagten, nämlich, dass Gott nur in Relation zum Sohn überhaupt richten kann. Warum ist das so?

Gott selbst ist nondual, aber im Sohn hat er die Welt der Dualität und Teilung betreten, um sie mit Gott wieder zu vereinen.

Daher müssen wir auf den Sohn „blicken“, um das Wesen des Jüngsten Gerichts zu verstehen. Und in diesem Sinne erklärt Jesus, er tue nur das, was er den Vater tun „sieht“:

Amen, amen, ich sage euch: Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht; denn was dieser tut, das tut in gleicher Weise auch der Sohn.

Johannes 5, 19

Doch welches Tun des Sohnes sehen wir, woraus wir schließen können, was der Vater tut? Die Antwort ist schlicht: Wir sehen in Jesus Christus jenen Sohn, der dazu auffordert, bedingungslos zu vergeben, um dem Wesen eines einigen Gottes gerecht zu werden:

Richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammet nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebet, so wird euch vergeben.

Matthäus 7,1

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

Matthäus 6, 12

Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

Matthäus 6, 14-15

Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, so durch ihr Wort an mich glauben werden, auf dass sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; dass auch sie in uns eins seien, auf dass die Welt glaube, du habest mich gesandt. Und ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, dass sie eins seien, gleichwie wir eins sind.

Johannes 17,20-22

Doch Jesus fordert diese Bereitschaft nicht nur von uns, sondern er kommt dieser Forderung selbst konsequent nach, indem er sterbend am Kreuz seinen Feinden vergibt. Das ist es, was der Sohn den Vater „tun“ sieht und daher kann auch der Sohn nur so handeln, nämlich bedingungslos vergeben. Diese Geisteshaltung ist es, durch die wir (wo wir sie annehmen) zu Gott gelangen. Das ist unser Weg zu Gott. Eine andere Möglichkeit existiert nicht, wie Jesus verdeutlicht:

Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.

Johannes 14,6

Denn in der Gewissheit, dass dem, der in diese Einheit vertraut, alles dienen muss, konnte der Sohn allumfassend Vergebung üben und vom Kreuz herab verkünden:

Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun!

Lukas 23,34

Vergebung durch Einsicht in das Wesen Gottes

Jesus Christus ist gekommen, zu verkünden und durch seine Passion zu verdeutlichen, dass in der Sphäre des Geistes (in Gott) kein Grund zur Verurteilung oder Bestrafung existieren kann. Daher sollen wir unser eigenes Leben so auffassen, wie Jesus sein Leben verstanden und aufgefasst hat. Aber wie hat Jesus sein eigenes Leben denn aufgefasst und verstanden? Jesus war es gegeben, in der Sinnlosigkeit und Geistlosigkeit des an ihm verübten Unrechts, seiner Verleumdung, Anklage, Verurteilung, Folter und Hinrichtung den Willen Gottes zu finden, wodurch diese Geschehnisse eine Bedeutung finden mussten.

Solange wir Unrecht, Leid und Tod auf ein böses Schicksal oder auf unsere Feinde zurückführen, werden wir Schaden nehmen.

Schaden nehmen wir insofern, als wir an einer Wirklichkeit, mit der wir entzweit sind, innerlich zerbrechen müssen. Was wir aber nach dem Willen Gottes auf uns nehmen, das muss gut werden, da aus Gott nur Gutes, nur Leben fließt. Jesus Christus ist gekommen, damit sich der Grund und die Ursache unseres Leides ändern.

Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.

Matthäus 16,25

Das ist die inhaltliche und geistige Konsequenz, die aus der Passion Jesu folgt.

Jesus sah sich in der Lage, den Willen Gottes in Unrecht, Leid und Tod zu erkennen, wodurch er diese Bereiche des Menschseins überwand, damit sie gut werden konnten, uns zum Vorbild und Trost.

Und ging hin ein wenig, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst.

Markus 14,36

In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.

Johannes 16,33

Selbst die Haare auf eurem Kopf sind alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht …

Lukas 12,7

Und ihr werdet gehasst sein von jedermann um meines Namens willen. Und doch soll nicht ein Haar von eurem Haupte umkommen.

Lukas 21,17

Wir sehen, das Lebensverständnis, das Jesus in seiner Botschaft verkündete, ist ein allumfassendes und vollkommenes – ein Lebensverständnis, in welchem ausnahmslos allen Dingen eine Bedeutung zukommt, sobald wir unsere Zuversicht auf die Kraft des Geistes setzen, der uns alle Dinge zum Besten dienen lässt, wenn wir ihm nur ganz und gar darin vertrauen.

Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen …

Römer 8, 28

Der Jüngste Tag – die geeinte Wirklichkeit

Jüngstes Gericht und Jüngster Tag sind der Sache nach eins, nur aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Der Jüngste Tag ist das Offenbarwerden jener zeitlosen Wirklichkeit, die Jesus in seiner Botschaft verkündete und deren Wesen er uns in seiner Passion verdeutlicht hat. Aber was für eine Wirklichkeit ist das? Es ist die Wirklichkeit des Gerechten, der Gerechtigkeit schafft ohne Anklage, ohne Strafe, ohne Vergeltung, sondern durch Annahme aller Geschehnisse aus der Hand Gottes, wodurch allein sie gut werden können. In dieser Gewissheit empfängt Jesus ausnahmslos alles nach dem Willen Gottes und erfüllt es auf diese Weise mit Geist und Sinn. Dies betrifft insbesondere alle geistlosen und sinnlosen Bereiche unseres Menschseins.

Weil Gott durch nichts eingeschränkt, verletzt, behindert oder beeinträchtigt werden kann, muss ihm alles dienen.

Wer sein Leben auf diese Weise in Gott neu erkennt, dem muss von nun an alles so dienen, wie es Jesus gedient hat. Um uns diese Grundwahrheit aufzuzeigen, ist Jesus Christus gekommen und hat in seiner Passion die Abgründe des Menschseins auf sich genommen. Er ist gekommen, um die ungerechten, die bösen, dunklen und niederträchtigen Geschehnisse, durch den Geist (durch Gott) zu überwinden, wodurch sie nun dienen konnten, so wie er es am Vorabend seiner Gefangennahme seinen Jüngern erklärte:

Hättet ihr mich lieb, so würdet ihr euch freuen, dass ich gesagt habe: „Ich gehe zum Vater“; denn der Vater ist größer als ich.

Johannes 14, 27

Aber weil ich solches geredet habe, ist euer Herz voll Trauerns geworden. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist euch gut, dass ich hingehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch; so ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.

Johannes 16,7

Das Jüngste Gericht – die geteilte Wirklichkeit

Jetzt wird man fragen: Wenn doch Vergebung der Dreh- und Angelpunkt des Evangeliums ist, wozu dann ein Jüngstes Gericht und inwiefern werden wir dann gerichtet? Eine erste Antwort darauf lautet: Weil alle Entzweiung mit Gott begrenzt ist. Das Begrenzte ist aber nicht das Ewige und Zeitlose. Die Sphäre des Geistes (Gottes) ist die zeitlose und unbegrenzte und außerhalb dieser existiert nichts Bleibendes. Das Begrenzte endet eines Tages, das Ewige und Zeitlose hingegen ist das Immerwährende.

Soweit wir begrenzt denken und handeln, werden wir selbst ein Ende finden müssen. Das ist das Gericht, dass eines Tages alle Begrenzung endet – unausweichlich.

Unser menschliches Denken in Kategorien der Strafe und Vergeltung ist ein begrenztes, da es einem geteilten Wirklichkeitsverständnis entspringt. Um das Ewige, das Zeitlose zu gewinnen, muss das Begrenzte und Zeitgebundene gedanklich überwunden werden, denn in der Überwindung des Begrenzten endet auch jegliche Teilung und Entzweiung – endet auch alle Schuld und Anklage. Das Jüngste Gericht ist nichts anderes als ein Offenbarwerden unserer Entzweiung mit Gott, in dem alle Dinge von jeher eins sind. Eines Tages muss alle Entzweiung enden, eben weil sie begrenzt ist. Genauso wie die Macht einer Lüge endet, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, so endet auch alles Begrenzte und Zeitliche, wenn es mit der Wirklichkeit des Zeitlosen und Grenzenlosen in Berührung kommt oder eben damit konfrontiert wird. Das Grenzenlose und Zeitlose ist aber nicht ausschließlich etwas Zukünftiges, denn was zeitlos ist, das gilt schon immer, denn es ist ja ohne Anfang und ohne Ende. Das heißt, es gilt sowohl innerhalb der Zeit als auch darüber hinaus. Daher lehrte Jesus: 

Es kommt die Zeit, ja sie ist schon da, dass die Toten die Stimme des Gottessohnes hören. Wer auf sie hört, wird leben.

Johannes 5, 25

Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter euch.
Denn sehet, das Reich Gottes ist in euerer Mitte.
Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.

Lukas 17, 22

Insofern beruht das Wesen des Jüngsten Gerichts nicht auf einer Laune, einem Gutdünken oder Abwägen eines Urteils durch eine Richterperson, wie es sich manche Menschen gerne vorstellen, sondern es beruht auf der unausweichlichen Folgerichtigkeit des Geistes, der allem gibt, wonach es bittet und ruft: Wer Gnade und Barmherzigkeit wertschätzt, übt und sie erbittet, empfängt Gnade, wer auf Verurteilung und Vergeltung setzt und sucht, empfängt ein Urteil.

Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.  

Matthäus 5,7

Nicht etwa, dass Gott selbst verurteilen würde – nein, in Gott existiert keine Verdammnis. Aber soweit in uns jener Irrtum herrscht, der uns glauben lässt, durch Teilung und das heißt, durch Rache, Vergeltung und Strafe, könne die Welt oder der Mensch gebessert werden, soweit sind wir nicht in Gott. Sind wir aber nicht eins mit jener Kraft, die ausnahmslos alle Dinge wirkt, können uns die beschwerlichen und leidvollen Dinge auch nicht zum Guten dienen, wie es der Apostel Paulus im Römerbrief darlegt:

Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen …

Römer 8, 28

Der Jüngste Tag – die Bestimmung des Menschen

Eine weitere Antwort auf die oben gestellte Frage möchte ich wie folgt geben: Die menschliche Sehnsucht und den Wunsch nach unbegrenztem Leben empfinden wir nicht von ungefähr. Denn intuitiv wissen wir um den ideellen und zeitlosen Kern unseres Daseins. Der Beweis ist unsere Trauer über die Endlichkeit des menschlichen Lebens und die Sehnsucht nach „mehr“. Wir alle tragen eine Ahnung in uns, dass das Ganze „mehr“ ist als die Summe seiner Teile, wie Aristoteles sagte. Und indem wir dieser Sehnsucht folgen, gehen wir unserer wahren Bestimmung entgegen. Diese Ursehnsucht nach Leben gilt es nun, im Sinne Jesu zu deuten, denn er ist gekommen, damit wir unser Leben in einem neuen, größeren und zeitlosen Rahmen verstehen und erkennen, wodurch es mit Geist erfüllt wird. Der Jüngste Tag, wie auch das Jüngste Gericht, ist nichts anderes, als die Erfüllung unserer Sehnsucht nach Leben und Geist – allerdings in einem unbegrenzten, ungeteilten und bedingungslosen Sinne. Da jegliche Beschränkung, Teilung und Trennung des Lebens durch Unrecht, Irrtum, Krankheit, Schwäche, Leid und Tod zeitlich bedingt ist, wird sie mit der Zeit enden müssen. Soweit wir unser Leben in einem rein zeitlichen Sinne verstehen, sind wir sterblich und daher müssen wir am Jüngsten Tag enttäuscht werden, wenn alles Begrenzte endet. Die Enttäuschung darüber, dass das, was wir für das Leben hielten, etwas gänzlich anderes ist, werden wir als Gericht empfinden.

Wir können und werden nur sein, was wir von Herzen lieben. Nicht weniger und nicht mehr.

Da in Gott kein Gegenteil und insofern auch kein Unwille existiert, werden wir an jenem Tag nur das empfangen können, was wir hier von ganzem Herzen lieben, wertschätzen und wollen. Soweit unsere Hoffnung, unsere Liebe und Wertschätzung auf etwas gerichtet ist, das eines Tages endet, wird dieser „Gegenstand“ ein Ende finden müssen. Der Jüngste Tag ist der Anbruch eines zeitlosen und unbegrenzten Lebensverständnisses in uns. Ein Leben, zu dem wir, durch seine Botschaft, bereits hier in dieser Welt finden sollen. Denn nur dieses Verständnis wird sich am Jüngsten Tag als ein gültiges und tragfähiges bewahrheiten – dann, wenn alles Zeitgebundene endet. Verstehen wir unser Leben im Geist Jesu, gewinnt unser Leben diesen Zustand der Zeitlosigkeit. Dieser Zustand wird uns einst, wenn das Zeitliche endet, über alles Zeitliche erheben und tragen, so wie die Arche in den Zeiten Noahs.

Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.

Johannes 5, 24

Jüngster Tag und Jüngstes Gericht in den Gleichnissen Jesu

In vielen Gleichnissen thematisiert Jesus das Wesen des Jüngsten Gerichts. Dabei beleuchtet jedes Gleichnis auf seine eigene, besondere Weise das Prinzip der Teilung und Trennung, das wir in uns tragen und wie es uns am Jüngsten Tag daran hindern wird, in ein neues, geeintes Leben einzugehen. Denn neues, unvergängliches Leben kann nur empfangen, wer das ungeteilte Prinzip des Lebens in sich trägt und verkörpert. Selbstverständlich transportieren die im Folgenden beschriebenen vier Gleichnisse noch weitaus mehr Inhalte. Hier beleuchte ich jeweils nur die Schlusssequenzen, in denen Jesus die unfreiwillige und schmerzhafte Trennung, Enttäuschung und Entzweiung und die Empfindung des Zurückgesetztwerdens thematisiert. Jedes einzelne Szenario vermittelt ein Gefühl für den Anbruch des Gottesreiches und kann damit auch als eine Beschreibung der „Umstände“ am Jüngsten Tag bzw. am Jüngsten Gericht betrachtet werden.

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn
(Lukas 15,11–32)

Göttliches und menschliches Privilegverständnis

Am Schluss des Gleichnisses vom verlorenen Sohn lässt der Vater für den heimgekehrten jüngeren Sohn, der sein väterliches Erbe auf unredliche Weise durchgebracht hat, ein Fest ausrichten. Der ältere Sohn ist fassungslos und entzweit sich mit dem Vater über dessen großmütige Geste. Sein Unwille ist so groß, dass er sich weigert, am Fest teilzunehmen. Das Gleichnis zeigt, wie ein Leben in vermeintlicher Tadellosigkeit und Privilegdenken uns das Ziel verfehlen lässt. Nicht der Vater (Gott) ist es, der den älteren Bruder ausschließt, sondern der ältere Sohn verweigert sich selbst der Einheit mit dem Vater (Gott) und dem Bruder (Sohn).

Das Gleichnis von den zehn Brautjungfern (Matthäus 5, 1-13)

Die Wertschätzung des Unentbehrlichen – zur richtigen und zur falschen Zeit

In diesem Gleichnis geht es um den Erwerb der Grundlage des Lichtes, das hier als ein Sinnbild für ein Leben aus dem Geist steht. Die Metapher hier das Lampenöl, das am Tag d.h. während dieses Lebens (zur rechten Zeit) erworben und gewonnen werden soll. In der Schlusssequenz des Gleichnisses schlafen alle zehn Jungfrauen ein, was als Sinnbild für den Tod steht. Bei ihrem Wiedererwachen, nämlich der Auferstehung, eröffnet sich für die eine Gruppe die Möglichkeit des unmittelbaren Eintritts zum Hochzeitsfest. Die zweite Gruppe ohne Lampenöl findet eine geteilte Wirklichkeit vor. Die Tür zum Fest öffnet sich zwar für alle, aber nicht alle können daran teilnehmen. Dabei liegt die Bedingung zur Teilnahme am Fest nicht in der Einladung begründet, sondern in einer fehlenden Voraussetzung der zweiten Gruppe, nämlich dass jeder sein Licht zur Feier mitbringt. Licht ist hier die Voraussetzung für die Durchführung der nächtlichen Feier. Der Mangel an Lampenöl wird von der zweiten Gruppe schmerzlich empfunden, weshalb sie sich mitten in der Nacht (zur falschen Zeit) aufmacht, um Öl zu erwerben. Doch wird ihnen bei ihrer Rückkehr kein Einlass mehr gewährt, da der Bräutigam die Gesellschaft für vollständig erklärt.

Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Matthäus 20, 1-16)

Aufwertung und Abwertung durch unerwartete Wertschätzung

Bei diesem Gleichnis empfinden die ersten gedungenen Arbeiter, die bereits frühmorgens mit der Arbeit begonnen haben, eine Ungleichbehandlung gegenüber jenen Arbeitern, die nach und nach während des Tages gedungen wurden und später hinzukamen. Der Weinbergsbesitzer hält sich an seine Zusage, einen angemessenen Tageslohn zu bezahlen. Aber bei den Arbeitern, die den vollen Tag gearbeitet haben, löst es Verärgerung aus, als bei der Auszahlung auch diejenigen, die viel später hinzugekommen sind, den vollen Tageslohn erhalten. Auch hier liegt die Ursache für den Verdruss der Ersten nicht in einer böswilligen Zurücksetzung durch den Weinbergsbesitzer – im Gegenteil, die Auszahlung ist insgesamt großzügig. Aber die Erwartung der Ersten, es müsse ihnen mehr zustehen, lässt ihre Bezahlung plötzlich minderwertig erscheinen, wodurch sie ihren Lohn selbst entwerten. Auch hier ist es das Privilegdenken der Ersten, wodurch sie sich am Ende zurückgesetzt fühlen.

Das Gleichnis von der Rangordnung der Gäste (Lukas 14, 7-14)

Zurücksetzung durch Hochmut – Ehrung durch Demut

Nach Beobachtung der Gäste und Gastgeber bei einem Hochzeitsfest, zu dem Jesus selbst eingeladen war, zieht er Parallelen zum Wesen des Gottesreiches. In diesem Gleichnis thematisiert er die Situation, in der Gäste sich selbst nahe beim Gastgeber platzieren, ihnen dann aber gesagt werden muss, dass dieser Platz für einen anderen Gast reserviert sei, sodass sie unter den Augen der Öffentlichkeit einen entfernteren Platz an der Tafel einnehmen müssen. Jesus beschreibt hier das Szenario einer Zurücksetzung und Demütigung unter den Augen der Öffentlichkeit. Auch hier ist es die hohe Meinung, die man von sich selbst hat, die an jenem Tag offenbar wird, wodurch man sich dann peinlich zurückgesetzt fühlt. Dabei darf die „Zurücksetzung“ nicht als ein Akt der Bestrafung missdeutet werden. Vielmehr folgt sie aus der Notwendigkeit der Organisation des Gastgebers. Jesus ruft daher zu Demut und aufrichtiger Selbsteinschätzung auf, damit der Jüngste Tag nicht als ein Tag der Zurücksetzung empfunden wird, sondern als ein Tag des Aufrückens, hin zum Zentrum des Festgeschehens – hin zu Gott.

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Einst
Was jenseits allen Sinnes
Als die Zeit noch reichlich
Unzeit-Unort
Welt der Gnade

Titelbild: Aus drei Bildern generiert durch Midjourney, gefügt und bearbeitet mit Adobe-Photoshop.

Schuld und Vergebung

Wohl kaum ein Aspekt der christlichen Botschaft hat je eine größere Pervertierung erfahren, als die neutestamentlichen Aussagen über Schuld und Vergebung.

Tatsächlich kultivieren fast alle gesellschaftlichen Systeme den Narrativ von Schuld und Strafe – also das Schuldigwerden und die Sanktionierung von Schuld. Kein Mittel scheint geeigneter, um Menschen willfährig und abhängig zu machen, oder sie einfach zur Kasse zu bitten.

Der schuldige Untertan

Künstliche Schuldkonstrukte waren von jeher ein Mittel, um bestimmte Gruppen zu stigmatisieren, auszugrenzen oder schlicht zu Sündenböcken zu erklären. Letztlich geht es bei dieser Praxis immer darum, weltliche Machtstrukturen zu etablieren, sie zu festigen und zu erweitern.
Um die Unterschiede und die Unvereinbarkeit einer künstlich geschaffenen Schuld gegenüber dem Schuld- und Sühneverständnis Jesu zu verdeutlichen, möchte ich im Folgenden die spezifischen Inhalte seiner Botschaft näher betrachten.

Das Verhältnis von Schuld und Macht

Wer die neutestamentlichen Reden Jesu über Schuld und Sühne liest wird unschwer feststellen, dass es diesem Lehrmeister nicht um die Errichtung einer Gesellschaftsordnung und damit verbundener Machtansprüche ging. Tatsächlich kehrt Jesus jedes menschliche Hierarchiedenken komplett um, wenn er lehrt, dass derjenige in der geistigen Hierarchie am höchsten steht, der sich als ein Diener seines Mitmenschen versteht. Diesen Grundsatz äußerte er klar und unmissverständlich:

Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so soll es bei euch nicht sein; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.

Markus 10, 43-45

Der Dienst, den Jesus den Menschen selbst erweist, klingt im letzten Satz seiner Rede bereits an. Dieser Dienst besteht – im weiteren Kontext – in einer konkreten geistigen Hilfe, durch die wir die Bedeutung der beschwerlichen und leidvollen Seiten unseres Daseins erkennen und verstehen lernen, um unser Leben in einer neuen, vertrauensvollen Betrachtungsweise zu meistern, wodurch das Böse überwunden wird.

Überwindung bedeutet im Sinne Jesu, dass das, was wir bisher für sinnlos gehalten haben, einen individuellen Sinn erfährt.

Will man daher von einem Machtanspruch Jesu reden, so muss man auf dieser gedanklichen Ebene noch einen Schritt weitergehen. Allmacht ist in den Augen Jesu ein Potential, das in der völligen Ohnmacht des Menschen begründet liegt. Das mag paradox klingen, doch folgen wir der Definition Jesu, dann liegt tatsächlich in der Ohnmacht des Menschen die Allmacht Gottes verborgen. Also dort, wo die Macht des Menschen aufhört, eben dort beginnt die Macht Gottes.  Um diese Kernaussage seiner Lehre zu verdeutlichen und diesen Gedanken weiter zu vertiefen, möchte ich ein eindrückliches Zitat aus dem Johannesevangelium anführen. Wahrscheinlich handelt es sich bei dieser Äußerung Jesu um eine Erklärung, die er angesichts seiner bevorstehenden Verhaftung äußerte.

Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen. Niemand nimmt es gegen meinen Willen, sondern ich gebe es freiwillig hin. Ich habe die Macht, es hinzugeben, und ich habe die Macht, es wieder zu nehmen. Das ist das Gesetz, das ich von meinem Vater empfangen habe.

Johannes. 10, 18

Soviel wird hier deutlich; da will einer nichts für sich und daher ist seine Definition von Macht auch nicht mit weltlichen Machtansprüchen vergleichbar und sie sind insofern auch nicht korrumpierbar.

Schuld – Chance zur Selbsterkenntnis

Eine Begebenheit, die uns die Unvereinbarkeit von weltlichem und christlichem Schuldverständnis verdeutlicht, schildert uns der Bericht von Jesus und jener Ehebrecherin, die öffentlich gesteinigt werden soll.

Um die Brisanz der Situation zu verstehen, in die Jesus da hineingeraten ist, muss man wissen, dass es den jüdischen Behörden zur Zeit Jesu untersagt war, selbstständig Todesurteile zu verhängen. Die Gerichtsbarkeit lag in solchen Fällen bei den römischen Behörden.

Frühmorgens aber kam Jesus wieder in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm, und er setzte sich und lehrte sie. Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte und sprachen zu ihm: Rabbi, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du dazu?  Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde.  Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.  Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand.  Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Johannes 8, 3-11

In dieser, für die Ankläger völlig unerwarteten, Reaktion Jesu auf die provozierende und hinterlistige Frage, wie denn die angezeigte Schuld nun rechtmäßig zu bestrafen sei, wird die christliche Haltung bezüglich menschlicher Schuld und Sühne exemplarisch deutlich. Denn in der Antwort, die Jesus gibt, löst er die Gruppe der Ankläger auf, indem er jeden Einzelnen auf sich selbst zurückwirft – indem er ihn ganz persönlich mit dessen eigener menschlicher Unvollkommenheit konfrontiert. Diese Haltung ist bezeichnend und grundlegend für die Botschaft Jesu und tatsächlich ruht die gesamte christliche Lehre auf dieser gedanklichen Basis. Immer gründet sie sich auf der Frage nach dem Sinn und der Bedeutung des menschlichen Daseins mit seinen Schwächen und Unzulänglichkeiten: Scheitern, Schwäche, Krankheit, Irrtum, Täuschung, Ungerechtigkeit, Leid oder Tod – explizit diese Bereiche des Menschseins stehen im Fokus der Theologie Jesu.

Man könnte jetzt noch weitere ähnliche Aussagen Jesu anführen. Ich beschränke mich auf den folgenden Text der ebenso exemplarisch für die Lösung der Schuldfrage steht:

Richtet niemanden, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr selbst gerichtet werden und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden. Warum starrst du auf den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und siehe, in deinem Auge steckt ein Balken! Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen!

Matthäus 7, 1-5

In diesem Gleichnis erfahren wir einen weiteren elementaren Grundgedanken der Lehre Jesu, nämlich die Ursächlichkeit von Schuld. Aus der Sicht Jesu liegt die Ursache unserer Schuld nicht nur in einem Unrecht, das wir vorsätzlich begangen haben, sondern auch dort, wo wir einen Makel unseres Mitmenschen aufzeigen, um diesen durch einen Eingriff korrigieren zu wollen.

Immer müssen wir bedenken, dass jede Korrektur, die wir an unserem Mitmenschen vornehmen wollen, vor dem Hintergrund unserer eigenen menschlichen Fehlbarkeit bestehen können muss.

Tut sie das nicht, so handeln wir unrecht, weil wir uns der Heuchelei also der Unaufrichtigkeit, der Befangenheit und damit der Amtsanmaßung schuldig machen. Die Aufforderung Jesu, zuerst den Balken aus dem eigenen Auge zu ziehen, zeigt die fast unmögliche Aufgabe schonungslos geübter Selbstkritik. Nur derjenige, der sich in solcher Selbstkritik übt, der sich die eigene Schwäche und Befangenheit stets vor Augen hält, ist authentisch, und nur der authentische Mensch ist fähig, angemessen Kritik zu üben. Und noch etwas: Werden wir durch freiwillige Einsicht in uns selbst frei von Verurteilung anderer, so existiert keine Grundlage mehr, die uns schuldig sprechen kann. Dies ist eine Folgerichtigkeit, die sich aus der christlichen Vergebungstheologie ergibt.

In dem Gebet, das Jesus lehrte vermittelt er diese Ursächlichkeit und Folgerichtigkeit von Schuld und Vergebung :

Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben denen, die sich an uns schuldig gemacht haben.

Matthäus 6, 9

Damit zeigt Jesus die einzige Möglichkeit auf, durch die Schuld objektiv vergeben werden kann, und zwar durch subjektiv geübte Vergebung desjenigen, dem ein Unrecht widerfahren ist, gegenüber demjenigen, der es an ihm begangen hat.

Der objektive Wille – also Gott – liegt somit in der subjektiven Vergebungsbereitschaft des Menschen begründet.

Aber noch etwas Grundlegendes wird hier deutlich: Jede Vergebung, die wir in dieser Überzeugung üben, ist gleichbedeutend mit der Vergebung, die wir durch Gott erfahren. Ja mehr noch; Gottes Vergebung ist vollkommen abhängig von der Vergebung, die wir selbst bereit sind zu üben. Mit anderen Worten: Vergeben wir nicht, so kann auch Gott nicht vergeben.
Vergeben wir im Sinne Jesu, so muss Gott vergeben – er kann nicht anders.

An keinem Ort der Welt – als allein in uns selbst – findet sich jene Instanz, die eine objektive Vergebung bewirkt.

Schuld macht Sinn

Aber warum sollte ein Unrecht überhaupt vergeben werden? Mit der Beantwortung dieser Frage kommen wir zum Sinn und zur Bedeutung der menschlichen Schuld . Alle Formen von menschlicher Schwäche, Irrtum und Schuld sind der Botschaft Jesu nach, nicht etwa entbehrlich oder überflüssig – ganz im Gegenteil, sie sind unabdingbare und notwendige Begleiter unseres menschlichen Daseins, denn ohne Schuld keine Vergebung, ohne Vergebung keine Gnade und insofern auch keine Barmherzigkeit. Jesus fasst diesen Gedanken in folgendem Kernsatz zusammen.

Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Ich bin gekommen zu rufen die Sünder zur Buße, und nicht die Gerechten.

Lukas 5, 31-32

Unsere menschliche Schwäche und das Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit sind die Grundlage und die Voraussetzung für unsere Heilung und Erlösung, ja mehr noch, sie sind unabdingbar notwendig, um über unseren temporären und mangelhaften Zustand hinauszugelangen, um diese Welt zu transzendieren. Insofern ist jede Form von menschlichem Versagen, Schwäche und Schuld unser größtes Potential überhaupt, sofern wir es im Sinne Jesu auffassen und annehmen.

Während in weltlichen Gesellschaftssystemen, Schwäche und Schuld als ein Instrument zur Demütigung oder Unterdrückung der Menschen dient, verhält es sich in der Botschaft Jesu – in der geistigen Sphäre – anders. 

Je mehr der Mensch sich in seiner Schwäche selbst erkennt, desto mehr Wahrhaftigkeit kann er daraus gewinnen.

Ein heute geläufigeres Wort für Wahrhaftigkeit ist Authentizität. Soviel Authentizität wir erlangen, so viel Göttlichkeit haftet uns an. Und in diesem Sinne lehrt Jesus:

Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.

Matthäus 5, 8

Auch dieser Lehrsatz wurde und wird immer wieder dahingehend missdeutet, dass ein guter Christ frei sein müsse von „unreinen“ Gedanken. Doch das ist zu kurz gegriffen, der Mensch soll die Unreinheit seiner Gedanken genau betrachten. Reinheit des Herzens ist ein Sinnbild dafür, dass wir uns in unserem Innersten (Herzen) genau so sehen, wie wir in Wahrheit sind: überheblich, unvollkommen, schwach, irrend, zweifelnd, fehlbar und sterblich. Die ungeschminkte und reine Einsicht in uns selbst ist jene Schau Gottes in unserem Herzen. Denn sehen wir uns so, wie wir in Wahrheit sind, so sehen wir nichts anderes als die Wahrheit, die wiederum Gott selbst ist. Und nur diese innere Einsicht kann uns nun dazu befähigen, die Schwäche und Unvollkommenheit unseres Mitmenschen zu verstehen und diese zu vergeben. Hierin liegt übrigens die einzig sinnvolle und geistvolle Konsequenz, die wir aus unserer menschlichen Schwäche überhaupt ziehen können, nämlich Angesichts eigener Unvollkommenheit, die Unvollkommenheit unserer Mitmenschen zu verzeihen. Auf diese Weise kann das Kranke, das Falsche, das Schwache und das Sterbliche eine neue Bedeutung erfahren, wodurch allein es grundlegend überwunden wird.

Hat unsere menschliche Unvollkommenheit und Schwäche auf diese Weise eine Notwendigkeit und eine grundlegende Bedeutung erfahren, so kann uns nichts mehr anklagen. Daher beinhaltet der christliche Vergebungsgedanke das Ende jeglicher Anklage und Verurteilung.  Zur Vertiefung dieses Gedankens eine weitere Darlegung Jesu:

Da kam Petrus auf ihn zu und fragte: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal? Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal. Darum gleicht das Himmelreich einem König, der mit seinen Knechten abrechnen woll­te. Und als er anfing abzurechnen, wurde einer vor ihn gebracht, der war ihm zehntausend Zentner Silber schuldig. Da er’s nun nicht bezahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und seine Kin­der und alles, was er hatte, zu verkaufen und damit zu bezahlen. Da fiel ihm der Knecht zu Füßen und flehte ihn an und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir’s alles bezahlen. Da hatte der Herr Erbarmen mit diesem Knecht und ließ ihn frei, und die Schuld erließ er ihm auch. Da ging dieser Knecht hinaus und traf einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Silbergroschen schuldig; und er packte und würgte ihn und sprach: Bezahle, was du mir schuldig bist! Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Hab Geduld mit mir; ich will dir’s bezahlen. Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er bezahlt hätte, was er schuldig war. Als aber seine Mitknechte das sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten bei ihrem Herrn alles vor, was sich begeben hatte. Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du böser Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast; hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? Und sein Herr wurde zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis er alles bezahlt hätte, was er ihm schuldig war. So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.

Matthäus 18,21-35

Der schachernde Gott

Hinsichtlich der Ursächlichkeit von Schuld und Vergebung trifft man in manchen christlichen Kreisen auch immer wieder den Gedanken des sogenannten Sühneopfers an. Dabei wird der Kreuzestod Jesu als eine Art Automatismus oder als ein Handel mit Gott verstanden, wodurch sein Zorn besänftigt wurde und nun jeder Mensch, der an diesen Handel glaubt, auf wundersame Weise erlöst sei. Oft wird ein Gottesbild gezeichnet, das nach einem grausamen Opfer des eigenen Sohnes verlangte, wodurch dieser Gott schließlich besänftigt werden konnte.
Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Dieses Narrativ an sich ist nicht grundlegend falsch, wohl aber ist es die verkürzte Darstellung. Tatsächlich ist der Erlösungsgedanke in der Lehre Jesu kein undurchsichtiges Mysterium, sondern er beruht auf einer geistigen Folgerichtigkeit und diese Folgerichtigkeit, besteht auf Grundlage einer bestimmten gedanklichen Konsequenz.

Die Überwindung der Schuld

Anknüpfend an die Bedeutung der beschwerlichen, peinlichen und leidvollen Seiten unseres menschlichen Daseins, wie ich sie oben bereits ausgeführt habe, ergibt sich als gedankliche Konsequenz, dass ausnahmslos allen Erscheinungen in unserem Dasein eine Bedeutung innewohnt – ein tiefer Sinn, der von uns gesucht und gefunden werden will, wie es Jesus mehrfach postuliert:

Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.

Lukas 11, 9-10

Würden wir ausschließlich den positiven, förderlichen und angenehmen Seiten unseres Daseins eine Bedeutung beimessen und alles andere verwerfen, so handelten wir auch hier wieder aus menschlicher Befangenheit heraus. Denn blicken wir zeitlich zurück, so waren es oft gerade die beschwerlichen und schicksalhaften Geschehnisse, die uns viel grundlegender geformt und geprägt haben als die oberflächlichen und leichten.


Ein Mensch, der die Geisteshaltung Jesu annimmt, wird ein universeller und neuer Mensch sein, einer der nichts verwirft, was ihm begegnet – ferner ein Geschöpf, das aus der Gewissheit lebt, dass ihm nichts Bedeutungsloses widerfährt, dass ihm in allen Dingen niemand anderer begegnet als Gott selbst. Und dies insbesondere in den schicksalhaften, leidvollen und beschwerlichen Geschehnissen. Auf dieser inneren Einsicht beruht sowohl der Vergebungs- als auch der Erlösungsgedanke der Botschaft Jesu.

Werfen wir noch einmal einen Blick auf zwei elementare Aussagen, die den Erlösungsgedanken Jesu thematisieren. Angesichts seiner bevorstehenden Hinrichtung äußert sich Jesus mehrfach in dieser und ähnlicher Weise:

… und wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht, gleichwie des Menschen Sohn nicht gekommen ist, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“  

Matthäus 20, 27-28


 … das ist mein Blut des neuen Testaments, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.

Matthäus 26, 28

Im ersten Moment scheinen diese Aussagen wenig schlüssig. Wie kann das Leid oder das vergossene Blut eines Einzelnen bei anderen Menschen irgend etwas Positives bewirken? Wie kann es den Menschen Vergebung oder gar Erlösung bringen?  Betrachtet man jedoch diese Aussagen auf Basis der oben ausgeführten Gedanken so ergibt sich folgende, ungeheure gedankliche Konsequenz: Jesus sah sich in der Lage in allen Geschehnissen, die ihm begegneten eine Bedeutung zu finden. Nicht nur seine Anhänger und Freunde waren ihm lieb und teuer, sondern eben auch seine Feinde. Nicht nur das Gute, das man ihm tat, war für ihn bedeutungsvoll, sondern auch das Böse, das die Menschen an ihm verübten. Daher auch seine kompromisslose Aufforderung zur Feindesliebe:

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben« (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr nur liebt, die auch euch lieben, welchen Lohn erwartet ihr dafür? Tun nicht dasselbe auch die Steuereintreiber? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Gottlosen? Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist. Matthäus 5, 43-48

Die vollkommene Liebe schließt niemanden und nichts aus, und in der Annahme aller Geschehnisse, auch jener leidvollen, die unsere Feinde über uns verhängen mögen, wirkt Gott, jedoch nur in demjenigen, der bereit ist, diesen Gedanken zu fassen. Diese Wirkung universeller Liebe ist wechselseitig. Was heißt das? Sehen wir uns in der Lage auch in den unschönen, beschwerlichen und leidvollen Geschehnissen eine Bedeutung zu finden, so tragen wir – eben durch diese Zuversicht – Sinn und Bedeutung in solche Geschehnisse hinein. Mit anderen Worten, wir selbst sind es, die wir in der Geisteshaltung Jesu Sinn ins Sinnlose tragen. Denn keine Frage: Nüchtern betrachtet, war die Hinrichtung Jesu ein sinnloser, barbarischer und menschenverachtender Akt. Für Jesus selbst hingegen, der an die Bedeutung seines schicksalhaften Scheiterns am Kreuz glaubte, war es der Sinn und Zweck seiner Mission. Allein seine veränderte Betrachtungsweise – den leidvollen und beschwerlichen Geschehnissen gegenüber – änderte für ihn das Geschehen am Kreuz, und in dieser geistigen Haltung wollte und will er ein Beispiel und Vorbild für alle Menschen sein. Doch worin liegt nun der Unterschied? Ein Leid, dessen Sinn und Bedeutung wir erkennen und einsehen, wird dadurch tragbar. Aber mehr noch, jedes Leid, das wir im Vertrauen auf seine Sinnhaftigkeit auf uns nehmen, das nimmt eben dadurch erst neuen Sinn an, und indem es neuen Sinn annimmt nimmt es Gott an, und indem es Gott annimmt, nimmt sich Gott selbst des Leid’s an.
Nimmt sich aber Gott des menschlichen Leid’s an, so kann es überwunden werden. Mit anderen Worten, tragen wir unser Leid – wie Jesus – in der Gewissheit seiner Bedeutung, so trägt es Gott selbst, da Gott die Bedeutung selbst ist.  Trägt aber Gott unser Leid, so muss es überwunden werden, da in Gott kein Leid bleiben kann. Durch unerschütterliches Vertrauen in den Sinn des vermeintlich Sinnlosen überwindet der Geist das Geistlose, überwindet der Sinn das bis dahin Sinnlose. Eine andere Möglichkeit zur Überwindung des Sinnlosen existiert nicht, daher sagte Jesus:

Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Johannes 14,6

Durch mich, heißt hier, durch meine Geisteshaltung. Durch seine Geisteshaltung am Kreuz zeigte Jesus der Welt den einzig möglichen Weg, wie Böses gut, Ungerechtes gerecht, Sinnloses sinnvoll und Totes wieder lebendig werden kann. Das Geheimnis des Glaubens besteht in einer Wechselwirkung, die wir allein durch unsere geänderte geistige Haltung bewirken: Sehen wir uns angesichts des Bösen in der Lage, die Geisteshaltung Jesu anzunehmen, so übt sie auch Gott an uns: Vergeben wir, so vergibt Gott, lieben wir, so liebt Gott. Das Eine ist Inbegriff des anderen. Tatsächlich können wir diese Kausalität auch umkehren: Weil Gott uns bereits vergeben hat, sollen auch wir vergeben. Weil er durch seine Liebe alles erlöst hat, sollen auch wir durch unsere Liebe alles erlösen, denn erlösen bedeutet, innerlich frei zu werden von aller äußeren Anhaftung.

Der Missbrauch des Schuldkomplexes

Ganz anders verhält es sich dagegen bei weltlich auferlegter Schuld, sie kann nur durch entsprechende Sanktionierung oder Strafe getilgt werden.
Während der christliche Geist uns zur Einsicht in die eigenen menschlichen Schwächen aufruft, mit dem Ziel, dass wir dadurch bewegt werden, Schuld ohne Gegenleistung zu tilgen, geht es bei weltlichen Schuldrechnungen um ein ständig neues Erschaffen von Schuld mit dem Ziel, Abhängigkeiten zu erzeugen. Diese Form der Schulderzeugung ist willkürlich, ihre perfideste Form ist jene, die Menschen allein durch ihre Geburt und Existenz, also ohne ein Verbrechen begangen zu haben, zu Schuldigen macht. Wer hier das eine vom anderen nicht unterscheiden kann, steht diesem Schuldvorwurf hilflos gegenüber, da sich Schuld hier nicht mehr auf ein Verhalten sondern auf die Existenz bezieht. Das Mittel zur Sühne halten jene parat, die diese künstliche Schuld erdachten: Die Veränderung der Existenz gegen den Willen. Die Welt bedient sich von jeher des Werkzeugs der Schuld, um Abhängigkeiten, Hierarchien und Machtgefälle zu erzeugen oder um bestimmten Gruppen die Existenzberechtigung abzusprechen, indem man sie zur Bedrohung oder zur öffentlichen Gefahr erklärt. Das christliche Schuldverständnis hingegen dient dem konsequenten und grundlegenden Freiwerden von Schuld. Es ist frei vom Gedanken der Gegenleistung, der Vergeltung oder der Verurteilung.

Ich schließe mit einem Wort des Apostels Paulus, in dem er die positive Bedeutung aller Geschehnisse wie folgt zusammenfasst:

Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach dem Willen berufen sind. /… / daß sie gleich sein sollten dem Ebenbilde seines Sohnes, auf daß derselbe (Christus) der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Römer 8, 28-29

Die innere Schau

Manchmal entdecke ich in dunklen Stunden,
da ich mir selber fremd und feind,
dass das, was ich für bös und schicksalhaft befunden,
was grob und ungebührlich mir erscheint,
der Seele helfen könnte zu gesunden,
obgleich es der Verstand verneint.

Die eigne Unzulänglichkeit genau betrachten,
den Blick auf Lüge und auf Heuchelei
zu richten, indes dann dennoch zu beachten,
dass niemand sagen kann, er sei von Schwäche und von Irrtum frei
wäre ein Weg, Tyrannen zu entmachten
und auch ein Ausweg aus der eignen Tyrannei.

Die innre Schau in meinen tiefsten Herzensgrund,
macht mir das eigene unverfälschte Antlitz offenbar,
und was ich dort erblicke tut mir gleichwohl kund,
dass Gott und Wahrheit und ich selbst von jeher eines war.
Betracht ich mich auf jene Weise, dann schau ich Gottes Antlitz und
erkenn mich selbst im Spiegel meines Herzens wie Kristall so klar.

In dieser Einsicht kann ich die Gestalt annehmen,
in welcher Mensch dem Menschen würdig sich erweist
da überwunden und vergessen aller Tadel, alles Schämen
und abgelegt das alte Sinnen, das immerfort um Schuld und um Vergeltung kreist
So läge jener Ort, an dem das Paradies wir wähnen
dort wo den Sinn des Mangels und des Ungenügens man begreift.

Elmar Vogel am 10. Mai 2019