Als die Zeit noch reichlich

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Als die Zeit noch reichlich
war keine Zeit zu denken.
Jetzt, da sie unbegreiflich,
will keiner sich versenken,
in das Eventuelle,
in das Bedeutungschwere.
Nun atmet jede Zelle
nackte Sinnesleere.

Refrain
Ach könnten wir doch nur erkennen und begreifen,
dass alles Alte dieser Welt verloren geht damit
das Neue in uns fallen kann, um dort zu reifen
und wir den Weg hinüberfinden Schritt um Schritt

Als der Sinn noch offen,
da war er schwer beladen,
mit Wünschen und mit Hoffen
und ignoriertem Schaden,
den er bereits genommen,
doch ohne es zu wissen,
vom Sinnesrausch benommen
ward das Gefäß gerissen.

Refrain
Ach könnten wir doch nur erkennen und begreifen,
dass alles Alte dieser Welt verloren geht damit
das Neue in uns fallen kann, um dort zu reifen
und wir den Weg hinüberfinden Schritt um Schritt

Als das Gefäß noch voll
mit leichtem Spiel und Tand,
da empfand man keinen Groll
gegen Volk und Vaterland,
gegen die verführte Welt,
die noch jeden Sinn geglaubt,
den man ihr vor Augen stellt
und ihr den Zauber raubt.

Refrain
Ach könnten wir doch nur erkennen und begreifen,
dass alles Alte dieser Welt verloren geht damit
das Neue in uns fallen kann, um dort zu reifen
und wir den Weg hinüberfinden Schritt um Schritt

Vertonung und Refrain 1. 11. 2024

Glauben ohne Dogma – Philosophische Aspekte der Botschaft Jesu

Während die meisten Philosophen zumindest von ihren engsten Schülern verstanden wurden, kann dies bei Jesus mit Sicherheit verneint werden. Ein Großteil dessen, was er lehrte, löste bei seinen Zuhörern Verwunderung oder Sprachlosigkeit aus. So waren es auch in erster Linie seine Heilungen, die ihm zu großer Popularität verhalfen. Die Richtigkeit und der Wahrheitsgehalt seiner Botschaft konnten selbst von seinen Jüngern in letzter Konsequenz nur erahnt und insofern nur geglaubt werden. In dieser Hinsicht nimmt die Lehre Jesu eine Sonderstellung unter den Weisheitslehren ein.

Ist christlicher Glaube ohne Dogma möglich? Kann die Lehre Jesu an den Gesetzen der Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit gemessen werden? Oder ist sie als Dogma aufzufassen, das nicht hinterfragt werden darf, sondern einfach geglaubt werden muss?

Das Christentum hat ganz unterschiedliche und vielfältige Formen christlicher Gemeinschaften hervorgebracht, doch in einer Forderung scheinen sie doch alle übereinzustimmen: „Am Ende musst du es glauben, auch wenn du es nicht verstehst.“ Aber ist das die Glaubenslehre, die Jesus verkündete? Verstand er unter Glaube wirklich ein kritikloses Abnicken einer zum Dogma erhobenen Glaubenswahrheit, die nicht zu hinterfragen sei?

Im folgenden Beitrag möchte ich deutlich machen, warum letztere Auffassung unzutreffend ist. Ferner zeige ich auf, in welchem Sinne die Lehre Jesu eine in sich stimmige Weisheitslehre ist, die nahtlos an die antiken Philosophien anknüpft und diese schlüssig fortschreibt. Denn nicht verstanden zu werden, bedeutet nicht, nicht verstanden werden zu wollen oder nicht verstanden werden zu können. Dass Jesus aber verstanden werden wollte, das steht ganz außer Frage. So sind seine vielen Gleichnisse, in denen er förmlich darum ringt, seine Lehre für die Menschen anschaulich und verständlich zu machen, ein lebendiges Zeugnis seiner Bemühung: 

Wem ist das Reich Gottes ähnlich, womit soll ich es vergleichen?

Lukas 13,18

Glauben heißt, nicht wissen. Stimmt das?

Tatsächlich wird der Begriff Glaube im Deutschen auf zweierlei Weise verwendet:

  • Als Mutmaßung: „Ich glaube, dass morgen schönes Wetter wird.“
  • Als Vertrauensbekundung: „Dem Zeugen, der mir den Hergang geschildert hat, glaube ich.“

Betrachtet man den Zusammenhang, in welchem Jesus vom Glauben spricht, so ist der christliche Glaubensbegriff der zweiten Kategorie zuzuordnen. Insofern verfehlt der Spruch: „Glauben heißt nicht wissen.“, die Bedeutung des christlichen Glaubensbegriffs. Jesus sieht sich selbst und jene, die um die geistige Dimension dieses Daseins wissen, als Teilhaber einer übergeordneten Wirklichkeit. Was sie dort „gesehen“ haben, macht sie zu unmittelbaren Zeugen dieser Wirklichkeit. Einer Wirklichkeit, die über das Vordergründige hinausweist. Doch was diese Zeugen geschaut haben, was sie wissen und worüber sie Auskunft geben, findet kein Gehör bei den Menschen. Dieses Dilemma beschreibt Jesus gegenüber dem Pharisäer Nikodemus:

Amen, amen, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben; ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an.

Johannes 3,11

Warum versteht ihr denn meine Sprache nicht? Denn meine Worte finden bei euch kein Gehör.

Johannes 8,43

Somit scheint Unverstandensein, ein Merkmal und Kennzeichen geistiger Lehrer zu sein. Und dies trifft in besonderem Maße auf die Lehre Jesu zu.

Kann Unverstandenem überhaupt Glaubwürdigkeit zukommen?

Während die meisten Philosophen zumindest von ihren engsten Schülern verstanden wurden, kann dies bei Jesus mit Sicherheit verneint werden. Ein Großteil dessen, was er lehrte, löste bei seinen Zuhörern Verwunderung oder Sprachlosigkeit aus. So waren es in erster Linie seine Heilungen, die ihm zu großer Popularität verhalfen, weshalb er von vielen eher als Arzt angesehen wurde.

Die Richtigkeit und der Wahrheitsgehalt seiner Botschaft konnten selbst von seinen Jüngern in letzter Konsequenz nur erahnt und insofern nur geglaubt werden. In diesem Punkt nimmt die Lehre Jesu tatsächlich eine Sonderstellung unter den Weisheitslehren ein. Dabei ist Glaube etwas durchaus Legitimes, denn selbstverständlich können und müssen wir oft auch solche Aussagen für glaubwürdig halten, die wir selbst gedanklich nicht durchdrungen haben. So verlässt man sich ja auch ohne Weiteres auf Aussagen von Vertrauenspersonen. Ob Bergführer, Trainer, Ärzte, Fachhandwerker, Ingenieure etc. Man vertraut den Aussagen dieser Personen, auch wenn man sie in fachlichen Details nicht immer vollkommen nachvollziehen kann. Warum? Weil man sie schlicht für kompetent und ihre Aussagen für glaubwürdig hält.

Kompetenz und Glaubwürdigkeit durch Selbstlosigkeit

Das Kennzeichen wirklicher Kompetenz ist Selbstlosigkeit. Denn das, was jemand als eine allgemeine Wahrheit verkündet, muss sich auch ohne den Einfluss seiner Person bewahrheiten können – wird sich trotz Ablehnung seiner Person als wahr erweisen. In diesem Sinne beweist Jesus seine Kompetenz paradoxerweise in seiner Passion; so wurde er in seiner größten Erniedrigung erhöht. In seiner Niederlage beweist sich die Wahrheit seiner Lehre, für die er sich vollkommen selbstlos hingibt:

Da sprach Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Menschensohn erhöhen werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und nichts von mir aus tue, sondern, wie mich der Vater gelehrt hat, so rede ich.

Johannes 8.28

Diese selbstlose und bedingungslose Hingabe an seine Mission kann insofern gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dennoch vertreten zunehmend Theologen die Auffassung, dass mit der Passion Jesu nichts Gutes geschehen sein kann. Damit steht die Passion Jesu als ein Beispiel dafür, dass Unverständliches und Unverstandenes vorschnell für sinnlos oder absurd erklärt wird. Das ist meist dann der Fall, wenn Menschen an die Grenzen ihrer Verständnis- und Erkenntnisfähigkeit gelangen und ihre abschließende Meinung zum Maßstab der Vernunft machen. Dabei liegt das zu Erkennende doch von jeher jenseits dessen, was wir im Moment erkennen und verstehen. Menschliches Erkennen ist nie etwas Abgeschlossenes oder Endgültiges.

Wenn Jesus in seiner Passion einen Sinn und eine Bedeutung sah, sollten wir dies zunächst immerhin so stehen lassen können, auch wenn wir es inhaltlich nicht sofort verstehen.

Es zeugt von Selbstüberschätzung und Ignoranz wenn eine Aussage verworfen wird, weil sie inhaltlich nicht verstanden wurde.

Wahrheit siegt, indem sie sich bewahrheitet

Insbesondere in seiner Passion hat Jesus aufgezeigt, dass das Wahre sich in jeder Situation als wahr erweisen kann, unabhängig davon, ob dessen Verkünder auf Wohlwollen trifft oder ob man ihn bekämpft, verletzt oder gar beseitigt, wie im Falle Jesu. Eben darin, dass Jesus bereit war, als Mensch zu unterliegen und zu scheitern, zeigte sich die Größe und die Vollkommenheit seines Wahrheitsbegriffs. Damit steht er für ein Wirklichkeitsverständnis, das sich auch ohne Bestätigung und ohne Wohlwollen von Menschen oder Umständen als wahr erweisen kann: das Reich Gottes.

Der Wahrheitsbegriff Jesu war so allumfassend, dass darin selbst das böswillige Tun und Handeln seiner Feinde eingeschlossen war.

Der Wahrheitsbegriff Jesu kann insofern als allumfassend und universell gelten, als er diesen über sein persönliches Wohlergehen setzte, wie er es selbst wiederholt erklärt:

Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat.

Johannes 6,38

Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.

Matthäus 20,28

Um Unsterblichkeit zu gewinnen, gilt es daher im Sinne Jesu „für“ die Wahrheit zu sterben, da einzig die Wahrheit unsterblich ist. In diesem Sinne lautet sein Aufruf:

Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren; und wer sein Leben verliert um mich und um meiner Worte willen, der wird es behalten.

Markus 8,35

Gott, ein Synonym für die Wahrheit

Jesus selbst verwendet den Begriff Gott als ein Synonym für die Wahrheit. So sagt er während seines Verhörs zu Pilatus nicht, dass er gekommen sei, um Zeugnis von Gott abzulegen, sondern er sagt:

Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, um für die Wahrheit Zeugnis abzulegen; wer aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme.

Johannes 18,37

Ging es Jesus in seiner Botschaft aber um Wahrheit, so können seine Lehren auch an den Aussagen anderer großer Philosophen gemessen werden. Mit einem Unterschied: Die Wahrheit, die Jesus lehrte, ist nicht in allen Teilen sofort erkennbar, vielmehr erschließt sie sich erst in einer vertrauensvollen Auseinandersetzung mit seiner Lehre. Der Grund dafür ist, dass seine Lehre den menschlichen Erkenntnisrahmen übersteigt. Denn wie schon erwähnt; was wir als wahr erkennen können, ist nie das Ganze und Vollkommene, sondern jegliches Erkennen ist immer nur Stückwerk, wie auch der Apostel Paulus verdeutlichte:

Denn unser Erkennen ist Stückwerk, und unser Weissagen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. // Wir sehen jetzt durch einen trüben Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich es stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.

1. Korinther 13, 9+12

Ein Kennzeichen der Wahrheit ist, dass sie grenzenlos, zeitlos und ohne Anfang und Ende ist, weshalb wir in unserer menschlichen Begrenztheit immer nur einen Teil der Wahrheit gedanklich erfassen werden. Dennoch wünscht das zu Erkennende (Gott) von uns vollkommen erkannt zu werden, und zwar in dem gleichen Maß wie wir selbst wünschen es erkennen zu wollen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Unser Vertrauen in die Lehre Jesu bildet gewissermaßen die Grundlage, das Unerkannte und Unverstandene seiner Botschaft erkennen zu können.

Unser Vertrauen in das noch Unerkannte ist das, was Jesus „Glaube“ nennt.

Soweit wir vertrauen, werden wir glauben und erkennen können. Doch warum sollten wir Jesus vertrauen? Weil Jesus nichts für sich wollte, sondern ein Gottes- und Wahrheitsbild in vollkommener Selbstlosigkeit vermittelte.

So waren selbst die Jünger fassungslos, als Jesu nach all den Drohungen und Anfeindungen, die er durch die Pharisäer in Judäa erfahren hatte, dennoch entschlossen war, zurück nach Jerusalem zu gehen, um dort hingerichtet zu werden. Ein Szenario, das er ihnen vorher explizit ankündigte und erklärte. Hierin liegt der göttliche und transzendente Aspekt seiner Botschaft, dass vieles, was Jesus lehrte und tat, sich für uns Menschen nicht unmittelbar erschließt. In der Weisheitslehre Jesu ist das zu Erkennende stets größer als das, was sich heute, hier und jetzt als wahr erkennen lässt. Oder wie es ein Gedanke des Zenbuddhismus ausdrückt: „Erkenntnis kennt keine Grenzen.“

Christlicher Glaube und die Philosophie der Stoa

Tatsächlich unterscheidet sich die Lehre Jesu inhaltlich von den großen Philosophien der Antike nicht. Das Inhaltliche, das er vermittelt, geht wie bei den Philosophen über das Vordergründige hinaus. So finden wir insbesondere bei den Stoikern nahezu deckungsgleiche Aussagen. Wenn es beispielsweise um das Hinnehmen von Unerwünschtem, von Unrecht und Gewalt geht. Hierin sind sich Sokrates, Epiktet und Jesus völlig einig:

Unrecht zu leiden ist besser, als Unrecht zu tun.

Sokrates

Verlange nicht, dass die Dinge gehen, wie du es wünschest, sondern wünsche sie so, wie sie gehen.

Epiktet

Ich aber sage euch, dass ihr dem Bösen nicht widerstehen sollt, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.

Matthäus 5,39

Weh euch, wenn euch alle Menschen loben; denn ebenso haben es ihre Väter mit den falschen Propheten gemacht. Euch, die ihr mir zuhört, sage ich: Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch misshandeln.

Lukas 6, 26,28

Sokrates und Jesus haben diese Lehren nicht nur verkündet, sondern sie haben sie auch konsequent gelebt. Beide haben sich nicht zur Wehr gesetzt gegenüber dem Unrecht, das sie durch ihre Feinde erfuhren. Im Gegenteil, Sokrates schaffte es in seinem Prozess, die Mehrzahl der Richter, die ihm anfangs gewogen waren, gegen sich aufzubringen. Und Jesus geht seinen Feinden sogar noch entgegen, als er nach Jerusalem kommt, um sich ihnen zu stellen. Beide haben ihr Urteil bereitwillig auf sich genommen, als man sie zum Tod wegen Gotteslästerung verurteilte und hinrichten ließ. Sokrates durch den Giftbecher, Jesus durch Kreuzigung.

Worin unterscheidet sich die Lehre Jesu von der Weisheitslehre der Philosophen?

Zwar sprechen auch viele Philosophen von den Göttern und von Gott, aber die Rolle Gottes in Bezug auf den Menschen ist nicht so konkret, wie Jesus es herausstellt. So ist seiner Lehre nach die Wahrheit, die Gott selbst ist, nicht unbeteiligt oder gleichgültig, gegenüber den Emotionen und dem Befinden des Menschen. Diese Auffassung widerspricht zwar dem Gottesbild der Pantheisten aber sie ist dennoch folgerichtig. Denn wenn Gott die Ursache aller Dinge ist, wie z. B. Spinoza sagt, dann muss er auch als Ursache unserer geistigen Regungen und Emotionen gelten können.

Die Immunität Gottes

Einerseits können zwar Leid, Tod, Schmerz und Trauer Gott „an sich“ nicht berühren, denn damit wäre Gott ja angreifbar und verletzlich, womit er aufhören würde Gott zu sein. Wohl aber existiert ein „Zustand“, der es Gott „ermöglicht“ menschliches Leid und Elend „wahrzunehmen“. Welcher Zustand ist das? Es ist jener Zustand, in dem ein Mensch sich in der Lage sieht, selbst in seinem Elend den Willen Gottes zu erkennen wodurch er es auf Gott zurückwirft, dem Urheber aller Dinge. Das ist es, was Jesus lehrte und konsequent lebte. In der Annahme seiner Passion lebte er die vollkommene Annahme von Schwäche, Feindschaft und Elend nach dem Willen Gottes. Denn in dem Moment, wo ein Mensch aufhört das Schwache und Böse, dem er in dieser Welt ausgeliefert ist, seinen Feinden oder einem bösen Schicksal, sondern Gott zuzuschreiben ändert sich seine Wirklichkeit grundlegend. Warum sollte das so sein? Einerseits weil das Elend, das ein Mensch nach dem Willen Gottes auf sich nimmt, nicht länger er selbst trägt, sondern Gott trägt es, den es nun unmittelbar betrifft und der es ja so will. Andererseits weil Gott, der Inbegriff von Wahrheit und Leben ist, nicht sterben kann und weil alles was aus Gott fließt göttlich und somit gut sein muss. Kraft dieser Erkenntnis muss alles, was dem Willen der Wahrheit (Gottes) unterliegt, Geist und Sinn finden.

Das ist es, was Jesus uns in seiner Passion verdeutlicht hat, dass wir unser Elend nach dem Willen Gottes auf uns nehmen sollen, wodurch allein es Sinn und Bedeutung finden wird.

Denn indem Jesus in seinem Leid und Elend den Willen Gottes erkannte, warf er es auf Gott und machte diesen zu dessen Urheber. All das aber, was dem Willen Gottes unterliegt das muss gut werden.

Gott, die Entsprechung unserer Sehnsucht nach Geist und Sinn

Für Jesus ist Gott, der die Wahrheit selbst ist, Urheber aller Dinge auch der leidvollen, die er kraft unserer Sehnsucht nach Wahrheit durch den Geist überwindet. Dabei ist unsere Sehnsucht von grundlegender Bedeutung: Unsere Sehnsucht nach einem Ende von Leid und Tod, ist für Gott Grund und Anlass, diese Bereiche zu überwinden und zwar dort, wo unsere Sehnsucht auf Gott gerichtet ist, der ja alle Dinge wirkt. Denn all das, was für Gott zum Grund und Anlass wird, das wird dadurch bedeutungsvoll. Ferner muss alles, was in Gott einen Grund sucht und findet, aufhören grundlos zu geschehen. Was aber seinen Grund in Gott gefunden hat, der die Wahrheit selbst ist, das wird dadurch auch Sinn und Bedeutung finden.

Die Überwindung des Bösen durch das Gute beruht darauf, dass Sinn- und Geistloses von Geist und Sinn durchdrungen und erfüllt wird, damit es notwendig und gut werden kann.

Jesus bezeichnet diese Sehnsucht, dieses Verlangen metaphorisch als „Hunger“ und „Durst“ nach Gerechtigkeit, weil wir uns hier nach Lebensnotwendigem sehnen:

Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.

Matthäus 5,6

Selbsterkenntnis – Der Weg zur Einheit mit Gott

Nun könnte man hier einwenden, dass eine derartige Interaktion zwischen Gott und Mensch, wie Jesus es vermittelt, bei den großen Philosophen nicht vorkommt und insofern nicht philosophisch sein kann. Doch auch hier ist zu beachten, was eingangs gesagt wurde, nämlich dass Gott „nur“ ein anderes Wort für die Wahrheit ist. Der Lehre Jesu nach ist die Wahrheitssuche, die sich auf Gott bezieht etwas Wechselseitiges. Diese Auffassung folgt aus der Erkenntnis, dass die Wahrheit unteilbar ist und insofern auch nicht geteilt gedacht werden kann. In jeder Interaktion mit der Wahrheit werden wir mit der Wahrheit geeint, die Gott selbst ist. Und aus dem Gesetz der Einheit mit Gott resultiert die folgende Erkenntnis: Soweit wir nach der Wahrheit suchen und diese erkennen wollen, soweit sucht die Wahrheit auch nach uns und will uns erkennen. Meister Eckhart drückt diese Wechselseitigkeit und Einheit der Wahrheits- und Gotteserkenntnis metaphorisch im Gleichnis vom Auge aus:

Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge, und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben.

Wer zum höchsten Adel seines Wesens gelangen will und zur Anschauung des höchsten Gutes, das Gott selber ist, der muss ein Erkennen seiner selbst haben,

Meister Eckhart

Und so wie Selbsterkenntnis die Basis der christlichen Wahrheits- und Gottessuche bildet, war sie von jeher auch Grundlage jeglicher Weisheitslehre und Philosophie. So stand der Überlieferung nach über dem Eingang des Tempels in Delphi der Satz:

Erkenne dich selbst und du wirst Gott erkennen.

Tempel in Delphi

Lao Tse lehrte äquivalent:

Wer andere erkennt, ist gelehrt. Wer sich selbst erkennt, ist weise.

Lao-Tse

Übereinstimmend lehrte Jesus:

Selig sind die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen.

Matthäus5,8

Selbsterkenntnis im Sinne Jesu meint aufrichtig geübte Einsicht in sich selbst und das Eingeständnis eigener menschlicher Schwäche und Fehlbarkeit. Diese Einsicht in uns selbst schafft ein reines Herz, denn sie offenbart uns unsere wirkliche „Gestalt“. Und die Betrachtung unserer wahren „Gestalt“ ist gleichbedeutend mit der Betrachtung Gottes.

Ersetzt man auch hier das Wort Gott durch Wahrheit und versteht man unter der Reinheit des Herzens, jene aufrichtig geübte Einsicht in sich selbst, so wird die Wechselseitigkeit deutlich, die ein Kennzeichen aller echten Wahrheitssuche ist. Soweit wir uns unserer eignen Schwächen und Fehler bewusst werden, sehen wir uns so, wie wir in Wahrheit sind – sehen wir uns so, wie Gott uns sieht.

Damit beruht das Schauen Gottes in uns auf einer ungeschönten Betrachtung unserer selbst. In diesem Sinne kann die obige Aussage Jesu wie folgt verstanden werden:

Selig, die sich im Innersten so betrachten wie sie sind, denn damit werden sie die Wahrheit über sich selbst sehen, das Antlitz Gottes.

In zwei Gleichnissen, bei denen es ums Suchen und Finden geht, verdeutlicht Jesus das philosophische Prinzip der Wechselseitigkeit aller Wahrheitssuche. Im Gleichnis vom verlorenen Sohn ist es der Sohn, der den Vater sucht und dem der Vater entgegengeht, als er ihn von Ferne kommen sieht – als er in dessen Blickfeld gerät:

Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Als er aber noch weit entfernt war, sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn.

Lukas 15, 32

Im Gleichnis vom verlorenen bzw. vom verirrten Schaf ist es der gute Hirte, der alles zurücklässt, um sich auf die Suche nach dem verlorenen Schaf zu machen. Und als er es gefunden hat, nimmt er es auf seine Schultern und trägt es nach Hause.

Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude.

Lukas 15, 7

Einswerden mit der Wahrheit – Die Einheit mit Gott

Wie oben gezeigt, sind der Lehre Jesu nach Gott und Wahrheit dasselbe. Und so setzt Jesus das Einswerden mit der Wahrheit gleich, mit dem Einswerden des Menschen mit Gott. Im Einswerden des Menschen mit einer leidvollen Wirklichkeit wird Gott verherrlicht. Warum ist das so? Zum einen, weil sich die Kraft der Wahrheit darin beweist, dass sie sich in Selbstlosigkeit jederzeit bewahrheiten kann und will. Zum anderen, weil Gott alle Wirklichkeit wandelt, die als Widerspruch zu den Prinzipien Leben und Geist empfunden wird, als dessen Urheber er erkannt wird. Unsere Empfindung von Trauer, Leid und Tod steht im Widerspruch zu einer Einheit mit Gott, mit Leben und Geist. An Gott, der die Wahrheit und das Leben selbst ist, rühren weder Leid noch Tod. In diesem Sinne sagte Jesus angesichts seiner Passion:

Darum liebt mich mein Vater, weil ich mein Leben lasse, auf dass ich es wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selber. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wiederzunehmen. Solches Gebot habe ich von meinem Vater empfangen.

Johannes 10, 17-18

Und am Vorabend seiner Verhaftung bittet er:

Ich heilige mich selbst für sie, auf dass auch sie geheiligt seien in der Wahrheit. Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, so durch ihr Wort an mich glauben werden, auf dass sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir und ich in dir; dass auch sie in uns eins seien, auf dass die Welt glaube, du habest mich gesandt. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, dass sie eins seien, gleichwie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf dass sie vollkommen seien in eins und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und liebest sie, gleichwie du mich liebst. Gleichwie du mich gesandt hast in die Welt, so sende ich sie auch in die Welt.

Johannes  17, 19-23

Meister Eckhart schrieb in diesem Kontext:

Wo der Mensch in wahrem Gehorsam aus seinem Ich herausgeht und sich des Seinen entschlägt (d. h. eigenes Wollen aufgibt), ebenda muss Gott notgedrungen hinwiederum eingehen; denn wenn einer für sich selbst nichts will, für den muss Gott in gleicher Weise wollen wie für sich selbst. Wenn ich mich meines Willens entäußert habe in die Hand meines Oberen und für mich selbst nichts will, so muss Gott darum für mich wollen, und versäumt er etwas für mich darin, so versäumt er es zugleich für sich selbst. So steht’s in allen Dingen: Wo ich nichts für mich will, da will Gott für mich. Nun gib acht! Was will er denn für mich, wenn ich nichts für mich will? Darin, wo ich von meinem Ich lasse, da muss er für mich notwendig alles das wollen, was er für sich selbst will, nicht weniger noch mehr, und in derselben Weise, mit der er für sich will. Und täte Gott das nicht, – bei der Wahrheit, die Gott ist, so wäre Gott nicht gerecht, noch wäre er Gott, was (doch) sein natürliches Sein ist.

“Reden der Unterweisung” Meister Eckhart 1260-1327

Jesus und Sokrates 

Bei Jesus wie bei Sokrates, besteht dieses Einssein mit der Wahrheit in der Annahme ihrer Verurteilung durch ihre Feinde. Beide sahen ihre Verurteilung als Konsequenz ihrer Lehre und Geisteshaltung, der sie bedingungslos treu blieben. Sokrates lehrte, dass es besser sei, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun. Andernfalls würde die Seele einen Schaden nehmen, der in keinem Verhältnis zum erlittenen Unrecht stünde.

Sokrates stirbt wie Jesus als Konsequenz seiner unerschütterlichen Überzeugung, von der er nicht abrückt. Aber der Tod des Sokrates ändert nichts an der Sinnlosigkeit und der Unwiderruflichkeit des Unrechts, das an ihm verübt wurde.
Anders verhält es sich bei Jesus: Die Ungerechtigkeit, die an Jesus verübt wurde, ist in seinen Augen weder unwiderruflich noch bleibt sie ungerecht. Sterbend am Kreuz widerruft Jesus das Unrecht, das seine Feinde an ihm verüben, indem er ihnen Vergebung zuspricht.
Und der Sinnlosigkeit seiner Hinrichtung setzt er, die von ihm erkannte und verkündete Notwendigkeit seiner Passion entgegen, wodurch aus der Sünde des Menschen jene Gerechtigkeit werden kann, die vor Gott gilt, wie es der Apostel Paulus erklärt:

Denn Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.

2. Korinther 6, 19-21

Worin aber das konkrete Heil und der Lohn für die Seele besteht, das denjenigen erreicht, der entsprechend dieser Lehre sein Leben hingibt, das wird bei Jesus konkret: Sind wir bereit unsere Wirklichkeit in ihrer Gänze und Vollständigkeit anzunehmen, so werden wir darin eins mit der Wahrheit, die Gott selbst ist. Sind wir aber eins mit der Wahrheit, so sind wir in Gott und Gott ist in uns. Was aber in Gott ist, das empfängt auch die Immunität Gottes. Doch auf welche Weise können wir in Gott – können wir in die Wahrheit gelangen?

Der Weg zur Wahrheit

Der Weg, um in die Wahrheit zu gelangen, geschieht so, wie es die großen Philosophien von jeher sahen und wie es Jesus gelehrt und konsequent gelebt hat, nämlich durch Selbsterkenntnis.

Der Lehre Jesu nach bedeutet Selbsterkenntnis etwas ganz Konkretes, nämlich aufrichtig geübte Einsicht in die Schwäche und Mangelhaftigkeit unseres menschlichen Daseins.

Ferner durch geübte Vergebung und Barmherzigkeit gegenüber den Schwächen und Fehlern und Irrtümern unserer Mitmenschen, da wir dieser selbst bedürfen. Und in letzter Konsequenz, durch Selbstlosigkeit und Selbstverleugnung. Ausschließlich in dieser Geisteshaltung werden wir eins mit der Wahrheit – nur auf diese Weise gelangen wir zu Gott. Und in diesem selbstlosen Sinn ist der Anspruch, Jesus zu verstehen:

Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.

Johannes 14,6

»Durch mich« bedeutet hier, durch die bereitwillige Annahme ausnahmslos aller Wirklichkeit, selbst der ungerechten, leidvollen und bösen, ganz so, wie Jesus es uns vorgelebt hat:

Da sprach er zu ihnen allen: Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten.

Lukas 9, 23-24

Dort, wo wir uns Krankheit, Verfolgung oder Feindseligkeiten ausgeliefert sehen und diese Dinge auf uns nehmen, da wir sie als eine Folge der Geisteshaltung Jesu erkennen, dort nehmen wir unser Kreuz im Sinne Jesu auf uns. Mit anderen Worten: Wir sollen das Elend unserer menschlichen Wirklichkeit um der Wahrheit willen wollen – um jener Wahrheit willen, die alle Dinge wirkt, um die Welt zu überwinden. Und diese Wahrheit ist Gott selbst. Ja, selbst wenn es zu unserem äußeren Nachteil oder Schaden sein sollte, sollen wir es dennoch wollen und lieben. In diesem Sinne schrieb die jüdische Philosophin Simone Weil:

Einzig der Widerspruch lässt uns erfahren, dass wir nicht alles sind. Der Widerspruch ist unser Elend, und das Gefühl für unser Elend ist das Gefühl für die Wirklichkeit. Denn unser Elend stellen wir nicht her. Es ist wahr. Deshalb muss man es lieben. Alles andere ist imaginär.

Aus “Schwerkraft und Gnade” Simone Weil

Warum ist alles andere imaginär? Weil jenes Elend, das wir bereit sind nach dem Willen Gottes auf uns zu nehmen, uns mit Gott eint. In seiner Passion lehrt uns Jesus, dass alles Elend, das ein Mensch nach dem Willen Gottes auf sich nimmt, in seinem Geist überwunden wird. Denn wer selbst in Unrecht, Leid und Tod eins wird mit Gott, der hat auch Anteil an allem was Gott in Jesus Christus vermag und was aus ihm fließt: Trost, Überwindung, Liebe, Leben, Geist und Sinn.

Sind wir eins mit der Wahrheit, die Gott selbst ist, so werden wir dadurch auch zu Teilhabern Gottes, der alles um seiner selbst willen wirkt. Und außerhalb Gottes existiert nichts und wirkt nichts.

Aber dort, wo wir um der Wahrheit willen Krankheit, Spott und Schaden erleiden, leiden wir nicht mehr um unsertwillen, sondern um Gottes Willen. Leiden wir aber um Gottes Willen, so leiden nicht wir, sondern Gott selbst leidet Krankheit, Spott und Schaden. Da aber Gott weder Krankheit, Spott noch Schaden leiden kann, muss er Krankheit, Spott und Schaden in Heil, in Ehre und in Freude verwandeln:

Amen, amen ich sage euch: ihr werdet weinen und wehklagen, die Welt aber wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit wird in Freude verwandelt werden.

Johannes 16,20

In Jesus Christus hat er das getan und sein Geist tut dies auch in uns. Auf diesem geistigen Prinzip beruht die Überwindung der Welt, die Jesus in seiner Weisheitslehre verkündet und konsequent gelebt hat.

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Von der Würde des Glaubens
Die Theodizeefrage
Für uns gestorben
Meister Eckhart

Gut und Böse

Ob etwas gut ist oder böse, 
das macht allein die Relation. 
Indem ich diese Fessel löse, 
-und scheint es auch wie blanker Hohn-
schaffe ich eigene Regime
und Böses findet neuen Raum. 

Damit fortan auch Arges diene, 
verfolge ich den hehren Traum, 
in welchem alle Dinge taugen; 
was gut mir scheint und was verhasst, 
dass trotz des Mangels meiner Augen, 
das Licht des Geistes mich umfasst. 

Nach Epiktet: „Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen, die wir von den Dingen haben.“

Elmar Vogel 4. Oktober 2020

Der Turm

Audiodatei: Der Turm

Es steht ein Turm im Tal der Welt,

erhebt sich hoch empor zum Licht,

er reicht bis an das Himmelszelt,

doch sieht man seine Zinnen nicht.

Willst du hinauf musst du hinab,

zuvor ins tiefe dunkle Tal,  

so lass dein Bündel nimm den Stab,

der Weg ist steil, der Mond steht fahl.

 

Den Gang hinab den Turm hinauf,

lass fahr'n dahin dein Hab und Gut,

denn jede Last hemmt deinen Lauf,

und unbeschwert wächst neuer Mut.

Rasch schlägt das Herz in mancher Brust

Schwer geht der Atem Stoß um Stoß,

doch mit der Höhe steigt die Lust:

Klein wird die Welt, der Mut so groß.

 

Hörst du des Wächters Ruf vom Turm,

er schallt hinaus weit übers Land.    

Bald warnt er vor Gewittersturm,

vor Krieg und Pest und Feuersbrand.

So nimm oh Mensch dein Herz in acht,

dass keine Macht es schrecken kann,

und wenn es fällt, so fällt es sacht

dorthin, wo alles einst begann.

 

Ach Türmer, der du einsam wachst,

auf deinem hohen Himmelsbau,

trotz deiner Größe nichts verlachst,

weshalb ich fest in dich vertrau.

Du bist mir Bruder, Freund und Held,

hast mich gerufen aus dem Tal,

damit das Dunkel sich erhellt;

Wo Licht ist endet alle Qual. 

Elmar Wieland Vogel am 23. Juli 2023

Die Theodizee-Frage

Warum lässt Gott das Leid in der Welt zu? Dieser Beitrag gibt Antworten auf die sogenannte Theodizee-Frage, und zwar im direkten Bezug zu den Aussagen der Botschaft Jesu. Wer den Ausführungen unvoreingenommen folgt, dem wird sich eine neue Sichtweise auf Beschwerliches, Leidvolles und Ungerechtes eröffnen.

Warum Gott das Leid auf der Welt zulässt
English Version

Vielen Menschen fällt es schwer an die Existenz eines guten Gottes zu glauben, da die Welt augenscheinlich alles andere als gut ist. Wenn tatsächlich ein Gott die Welt erschaffen hat, und wenn dieser Gott gut, allwissend oder sogar allmächtig ist, weshalb geschieht dann so viel Böses und Ungerechtes in der Welt? Weshalb greift ein allmächtiger Gott nicht ein und bringt seine Schöpfung in Ordnung? Ist Gott doch nicht allmächtig oder ist er am Ende gar ein Sadist, der die Menschen leiden und sterben sehen will? So oder ähnlich lauten die Argumente, die gegen einen Glauben an Gott, oder zumindest an einen guten Gott sprechen.

Man nennt die Auseinandersetzung mit der Frage, warum Gott das Leid in der Welt zulässt, auch die Theodizee-Frage. Der Begriff Theodizee kommt aus dem Griechischen theodikía von altgriechisch theós = Gott und díkē = Gerechtigkeit. Es geht also um die Frage, inwieweit man Gott, angesichts der Ungerechtigkeit in der Welt überhaupt als gerecht betrachten kann. Oder anders gesagt, es geht um den Versuch, Gottes Handeln zu rechtfertigen.

Der folgende Beitrag gibt Antworten auf die Frage, warum Gott das Leid in der Welt nicht verhindert, und zwar im direkten Bezug zu den Aussagen der Botschaft Jesu. Wer den Ausführungen unvoreingenommen folgt, dem wird sich eine neue Sichtweise auf Beschwerliches, Leidvolles und Ungerechtes eröffnen. Und wer sich diese Sichtweise zu eigen macht, wird sein Leben neu überdenken und anders verstehen können als bisher.

Tatsächlich ist eine befriedigende Antwort auf die Frage, wozu Gott das Leid in der Welt zulässt, ausschließlich auf Basis der Lehre und der Passion Jesu möglich. Keine andere Lehre gibt diese Antwort so schlüssig und überzeugend wie Jesus es tut. Finden wir zum tiefen Sinn der Lehre und der Passion Jesu, so finden wir damit auch zu einer grundlegenden Beantwortung dieser Frage. Die Beantwortung erfolgt dann allerdings nicht mehr nach einem Glaubensgrundsatz oder Dogma, sondern durch eine ganz persönliche Einsicht in die Richtigkeit der Lehre Jesu. Sie erfolgt insofern, als ihre Aussagen für schlüssig, richtig und glaubwürdig erkannt werden.

Eine Botschaft der Erlösung

Tatsächlich ist Jesus von Nazareth der erste und der einzige Lehrer, der das Problem der Theodizee sowohl in seiner Botschaft als auch in seiner Handlungsweise unmittelbar berührt. Als Erlöser kann Jesus insofern gelten, als er dieses Problem nicht nur verbal, sondern auch körperlich berührt und es in seiner Passion auf unerhörte und erschütternde Weise löst. Ob die Heilung Kranker, seine Predigt vom Reich Gottes oder aber die bereitwillige Annahme seiner Passion – alles ist Ausdruck einer Mission, die nur ein Ziel hat; nämlich das Leid der Welt durch den Geist zu überwinden. Dabei ist die Erlösung, die er den Menschen überbringt, nichts Fernes, Jenseitiges oder Zukünftiges, sondern sie geschieht unmittelbar heute, hier und jetzt, wie er sagt:

Jesus sprach: Sollte Gott nicht Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen und sollte er’s bei ihnen lange hinauszögern? Ich sage euch, er wird ihnen Recht schaffen, unverzüglich.

Lukas 18, 7-8

Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. Amen, amen, ich sage euch: Es kommt die Stunde und ist schon jetzt, dass die Toten werden die Stimme des Sohnes Gottes hören; und die sie hören werden, die werden leben.

Johannes 5, 24-25

Die Erlösung beruht darauf, dass Jesus in seiner Lehre eine Geisteshaltung vermittelt, durch die wir, wo wir sie annehmen, mit unserem Leben wieder versöhnt werden. Dabei ist die Versöhnung mit unserem Leben die Versöhnung mit Gott selbst. Programmatisch ist hier sein Aufruf:

Ändert euren Sinn, denn das Reich Gottes ist jetzt ganz nah bei euch.

Matthäus 3,2

Das heißt: Denkt um! Seid bereit, die Einstellung eurem Leben gegenüber grundlegend zu ändern. Lasst euch von der Botschaft vom Reich Gottes berühren.

Ein universelles, allumfassendes Gottesbild

Zunächst muss man verstehen, dass Jesus in seiner Lehre ein universelles Gottesbild vermittelt. Nur auf Basis eines Gottesbildes, das alle Geschehnisse umfasst, ist eine befriedigende Beantwortung der Theodizee-Frage überhaupt möglich. Das Gottesbild Jesu ist frei von negativer, menschlicher Launenhaftigkeit, wie man das in den Gott des Alten Testaments hineininterpretieren konnte, der dort auch als ein hassender und eifernder Gott beschrieben wird. Gott erweist sich in der Botschaft Jesu als ein treuer und liebender Vater. In seinem Sohn macht er uns zu Gotteskindern und setzt seine ganze Leidenschaft daran, das verlorene Vertrauen des Menschen wiederzugewinnen. Vertrauen heißt, die Gewissheit zu erlangen, dass Gott ausnahmslos alle Dinge wirkt und uns somit alle Geschehnisse zum Besten dienen:

Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach dem Vorsatz berufen sind.

Römer 8, 28

Allumfassend ist das Gottesbild Jesu insofern, als es unsere Begegnungen mit Freund und Feind, Freude und Leid, Schwäche und Stärke, Leben und Sterben, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit usw. als gleichbedeutend betrachtet. Das heißt, Jesus verwirft das menschlich Mangelhafte nicht mehr, sondern er verleiht ihm in seiner Botschaft eine essenzielle Bedeutung.
Das ist der neue, der außergewöhnliche und universelle Kern seiner Botschaft, dass auch das Ungeliebte unsere Liebe erfahren muss, wenn wir vollkommen sein wollen, wie er sagt:

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.« Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr nur liebt, die auch euch lieben, welchen Lohn wollt ihr dafür erhalten? Tun nicht dasselbe auch die Steuereintreiber? Und wenn ihr euch nur gegenüber euren Brüdern freundlich verhaltet, was tut ihr Außergewöhnliches? Tun die Steuereintreiber nicht dasselbe? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

Matthäus 5, 43-48

Man beachte den Schlusssatz, in dem Jesus das Wesen Gottes als vollkommen bezeichnet. Vollkommen ist, was „vollständig“ ist, also etwas, das alle Dinge ohne Unterschied umfasst und nichts ausschließt.

Gott ist vollkommen, weil er auch das Gegenteilige, nämlich den Feind, das Böse, das Leidvolle, das Ungerechte in sich einzuschließen vermag, ohne dadurch seine Existenz zu gefährden oder zu verlieren. Gott erfährt in allen Dingen eine Förderung seiner selbst, da außer Gott nichts ist.

Nur ein allumfassender und universeller Gott vermag alle Dinge zu lieben, da er durch niemanden und durch nichts behindert, verletzt oder zerstört werden kann, sondern in allen Dingen Förderung erfährt.

Christus überwindet die Dualität

Wenn wir es realistisch bedenken, dann müssen wir zugeben, dass unsere menschliche Existenz auf dieser Welt ohne das Gegenteilige gar nicht möglich wäre: Ohne Tod kein Leben, ohne Schlaf kein Wachsein, ohne Dunkelheit kein Licht usw. Die ganze Wahrheit ist unteilbar: Gäbe es nur Licht, würden wir das Licht nicht als solches empfinden. Auf unser menschliches Leben bezogen heißt das: Unser eigenes Leben kann im Sinne Jesu nur vollkommen werden, wenn wir ausnahmslos alle Dinge in unser Leben einschließen: Krankheit, Schwäche, Feindschaft, Ungerechtigkeit, Scheitern, Sterben, Leid und Tod.

Überwindung des Bösen bedeutet im Sinne Jesu, den Widerspruch der Dualität, den das Leidvolle und Beschwerliche für uns darstellt, gedanklich zu überwinden.

Alle diese negativen Erscheinungen sind wesentliche Bestandteile unserer menschlichen Wirklichkeit und aus diesem Grund sollen wir sie lieben und sehnsuchtsvoll nach ihrer Bedeutung für uns suchen. Diese Suche nach Sinn und Bedeutung des Sinn- und Bedeutungslosen ist die einzige relevante Suche überhaupt, da das Gesuchte (Gott/Geist/Sinn) genauso sehnsüchtig von uns gefunden werden will – weil Geist ebenso nach uns sucht, wie wir nach Geist (Geist/Sinn) suchen.

Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.

Matthäus 7,7

Lieben bedeutet hier nicht, dass wir diese Dinge an sich fördern und gut finden sollen, sondern es bedeutet, dass wir sie vertrauensvoll und bereitwillig auf uns nehmen sollen, wenn wir ihnen begegnen oder ihnen ausgeliefert sind. Denn nur durch unser vertrauensvolles und bereitwilliges Annehmen kann das bisher Gehasste und Ungeliebte Sinn und Bedeutung und somit eine tiefgreifende Wandlung erfahren.

Da sprach er zu ihnen allen: Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s erhalten.

Lukas 9, 23-24

Ein individuelles Gottesbild – Das Objektive im Subjektiven

Auch wenn man sagen kann, dass das christliche Gottesbild ein allumfassendes und universelles ist, so beantwortet Jesus die Theodizee-Frage dennoch rein subjektiv und individuell. Das heißt, er beantwortet die Frage nach dem Leid der Welt nicht in einem politischen oder kollektiven Sinn, denn ihre Beantwortung hängt ab vom individuellen „Glauben“ – sie hängt ab von der persönlichen Einsicht und Einwilligung jedes Einzelnen in seine Botschaft.
Seine ganz persönliche Antwort auf das Leid der Welt hat uns Jesus in seiner Passion gegeben und diese Antwort gibt er jedem Einzelnen, der sie für wahr hält, glaubt und der gewillt ist, sie anzunehmen. Seine Antwort lautet:

Unrecht, Leid und Tod können für uns nur dort einen Bedeutungswandel erfahren, wo wir sie in der Gewissheit, dass allen Geschehnissen ein verborgener Sinn und eine Bedeutung innewohnt, auf uns nehmen und tragen.

Jesus willigte ein in seine Passion, weil er über die geistige Fähigkeit verfügte, auch im Wirken seiner Feinde den Willen Gottes zu erkennen:

Und ging hin ein Stück, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst.

Matthäus 26, 39

Gewissermaßen „macht“ Jesus, durch diese Einwilligung in seine Passion, Gott zur Ursache von Unrecht, Leid und Tod. Gott wiederum, der seinem Prinzip nach vollkommen ist und insofern Ursache aller Dinge sein muss, wird durch die vertrauensvolle Einwilligung des Sohnes unversehens zum Urheber von etwas, das er seinem Wesen nach nicht ist. Denn Gott ist das Sein selbst und er ist die Ursache des Lebens an sich und dieses Prinzip ist ungeteilt, das heißt, es ist ohne Alternative oder Gegenpart.

Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet; und jede Stadt oder jedes Haus, das mit sich selbst uneins ist, wird nicht bestehen.

Matthäus 12, 25

Gott ist das Leben selbst und es existiert in ihm kein Widerspruch, insofern ist es unmöglich, dass in Gott gleichzeitig die Ursache von Unrecht, Leid und Tod liegen können. Daher müssen diese Bereiche einen Bedeutungswandel erfahren, wenn sie auf Gott treffen. Ebendiesen Bedeutungswandel haben sie dadurch erfahren, dass Jesus sie vertrauensvoll aus der Hand Gottes entgegengenommen hat, wodurch er sie mit Gott in Berührung brachte und sie so mit Geist, Sinn und Bedeutung erfüllte.
Hierin liegt die tiefe Bedeutung der Aussage: Jesus hat für uns gelitten und ist für uns gestorben. Jesus wusste, dass jenes Leid, das ein Mensch im Vertrauen auf Gott auf sich nimmt, seine Sinnlosigkeit verlieren muss, ja, dass es nur auf diese Weise zu einem neuen und höheren Sinn finden kann.

Gott, der verborgene Sinn im Sinnlosen

»Gott ist Geist«, so lautet die Definition Jesu. (Joh 4,24) Aber was heißt das? Es besagt, dass nur der Geist es vermag, allen Dingen einen Sinn und eine Bedeutung zu verleihen, insbesondere aber den augenscheinlich Geist- und Sinnlosen. Hinsichtlich der Beantwortung der Theodizee-Frage bedeutet dies, dass das Geistlose, das wir im Vertrauen in den Geist (auf Gott) auf uns nehmen, von Geist und Sinn durchdrungen wird, wodurch es unmittelbar zu Gott wird. Das ist das göttliche Prinzip der Sinnerfüllung.

Umgekehrt gilt: Geschehnisse, die wir aus Misstrauen gegen Gott (gegen das Leben) als unannehmbar ablehnen, müssen sinnlos bleiben, da wir die Macht des Geistes ausschließen, der alles mit Sinn erfüllt, was sich mit Sinn erfüllen lässt. Mächtig sind wir also dort, wo wir uns in der Lage sehen, Gott in ausnahmslos allen Dingen zu erkennen, die uns anhaften oder begegnen. Ohnmächtig hingegen sind wir, wo wir seine Macht und Gegenwart kategorisch ausschließen. Dieses geistige Prinzip hat Jesus seinen Jüngern vor seiner Gefangennahme verdeutlicht:

Darum liebt mich mein Vater, weil ich mein Leben lasse, auf dass ich es wieder nehme. Niemand nimmt es gegen meinen Willen, sondern ich lasse es freiwillig. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wieder zunehmen. Dieses Gesetz habe ich von meinem Vater empfangen.

Johannes 10, 17-18

Die Passion Jesu – Vakuum des Geistes

Zur Verdeutlichung der Wirkungsweise des Geistes im Kontext der Beantwortung der Theodizee-Frage folgendes Gleichnis:

Unter einem Vakuum versteht man den Unterdruck von Luft/Gas innerhalb eines Raumes/Gefäßes. Ein Vakuum kann immer nur so groß sein, wie es die Stabilität des Gefäßes zulässt, in dem das Vakuum erzeugt wird. Ist der Unterdruck zu groß, nimmt das Gefäß Schaden und es folgt der Druckausgleich als Notwendigkeit. Bezeichnenderweise existieren sowohl in der hebräischen als auch in der griechischen Sprache Entsprechungen der Begriffe Geist und Luft. So der Begriff „ruach“ = Luft, Geist, Wind, Atem, Duft im Hebräischen und der Begriff „pneuma“ = Geist, Hauch, Luft, Atem im Altgriechischen. In ebendiesen beiden Sprachen sind uns die Urtexte der heutigen Bibel überliefert.

Anknüpfend an das Beispiel vom Luftvakuum, kann man den Gedanken der Theodizee sinnbildlich auf das Geistige übertragen und sagen: Jesus hat in seiner Lehre und in seiner Passion ein Vakuum des Geistes (Gottes) erzeugt, das dieser ausfüllte, als das Gefäß zerbrach. Oder anders gesagt, die Abwesenheit von Geist und Sinn in einer sinnlosen Situation „nötigt“ den Geist herbei, sofern man um das Gesetz des geistigen Vakuums weiß, nämlich dass der Druckausgleich spätestens dann erfolgen muss, wenn das Gefäß zerbricht. Der neue atmosphärische Druck ist dann der neue normale – „außerhalb“ des alten Gefäßes in einem „größeren“ Raum. Der „größere“ Raum kann hier als ein Sinnbild für das Transzendente und Neue gelten, das über das Kleine und Alte hinausweist. Aber er ist auch ein Sinnbild für eine neue Normalität, eine neue Schöpfung:

In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, dann hätte ich nicht zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, so will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf dass ihr seid, wo ich bin.

Johannes 14, 2-3

In seiner Passion begibt sich Jesus bewusst in den Zustand eines geistigen Vakuums, nämlich in einen Zustand der Abwesenheit Gottes – einen Zustand der Geistlosigkeit, damit dieser mit Geist erfüllt werden kann.

Denn für denjenigen, der in allen Geschehnissen Gottes Willen und seine Gegenwart erkennt, kann ein Zustand der Abwesenheit Gottes nicht mehr existieren.

Der Tod ist ein Zustand der Abwesenheit Gottes. Doch Gott durchdringt und erfüllt alle Dinge, die sich von ihm erfüllen lassen. Gott ist alles in allem und darum „muss“ Gott solch einen Zustand der Gott – und Geistlosigkeit ausfüllen, und zwar durch und mit sich selbst, andernfalls wäre er nicht Gott. Jesus wusste um diese Gesetzmäßigkeit, daher schließt er mit den Worten:

Dieses Gesetz habe ich empfangen von meinem Vater. 

Joh 10, 17-18

Die Überwindung des äußeren Bösen

Gott steht dem Bösen keineswegs ohnmächtig gegenüber, sondern er sucht in Jesus Christus bewusst die Berührung und die Konfrontation mit dem Bösen, um es zu überwinden und das heißt, um es gut – um es zu Gott zu machen. Nur das, was durch den Geist überwunden ist, das ist wirklich „gut“ geworden. Und all das, was von Gott „berührt“ wird, das wird selbst zu Gott.

Jesus Christus ist die unmittelbare Berührung Gottes mit dem Leid der Welt.

Das Böse hingegen ist das, was sich von Gott nicht berühren lassen will, und insofern muss es für uns geistlos und sinnlos bleiben. Geist- und sinnlos sind die Geschehnisse jedoch nicht an sich, sondern sie sind es hinsichtlich unserer inneren Abwehr und unseres Unwillens. So bewertet Jesus das Böse, das ihm selbst widerfährt, nicht abschließend als böse, sondern er versteht es als etwas, das durch seine vertrauensvolle Haltung einen Sinn erfährt, wodurch es überwunden ist. Denn was durch den Geist überwunden wird, das ist unverhofft zu etwas Gutem geworden. Ebendiese Ursächlichkeit erklärt Jesus angesichts seiner bevorstehenden Passion:

Nun aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand unter euch fragt mich: Wo gehst du hin? Sondern weil ich solches geredet habe, ist euer Herz voller Trauer geworden. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist euch gut, dass ich hingehe. Denn wenn ich nicht hingehen, so kommt der Tröster nicht zu euch; so ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.

Johannes 16, 5-7

Man beachte die grundlegende Aussage Jesu: „Es ist euch gut, dass ich hingehe …“ Aber wie kann in Verrat, Unrecht, Folter, Hinrichtung und Sterben eines Menschen etwas Gutes liegen? Wie konnte Jesus dem grauenvollen Geschehen, das ihm bevorstand, etwas Gutes abgewinnen?  Die Antwort gibt er selbst: „Denn wenn ich nicht hingehen, so kommt der Tröster nicht zu euch …“ Was bedeutet das? Durch die Aufopferung Jesu wird ein neues geistiges Bewusstsein entstehen, das daraufhin allen Menschen zur Verfügung steht, die in menschlichen Notsituationen nach geistigem Trost suchen.

Gewissermaßen wird Gott durch die bereitwillige Passion Jesu zu einer neuen Schöpfung genötigt. Es ist das Vertrauen Jesu in die Allmacht Gottes und es ist die unerschütterliche Liebe, in der Jesus sich hingibt, die Gott seinerseits zu einer neuen Schöpfung „nötigt“. So ist durch die Passion Jesu ein neuer Mensch erschaffen worden. Und dieser neue Mensch ist Christus, der Überwinder. Christus verleiht allen, die sehnsüchtig suchen, diese, seine neue Identität und wer sie annimmt, nimmt die Gestalt des Gottessohnes an – wird selbst zu einem Kind (Sohn) Gottes.

Darum, ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden!

2. Korinther 5,17

In Jesus Christus zeigt Gott unmittelbar auf, wie er das Böse überwinden würde, wenn er Mensch wäre. Da Gott nicht Mensch ist, musste er Mensch werden, damit wir Menschen dieses Prinzip der Überwindung des Bösen erfahren können. In Jesus Christus wird Gott Mensch und konfrontiert sich selbst mit dem Bösen, indem er es auf sich nimmt, um es mit Geist und Sinn zu erfüllen:

Es ist euch gut, dass ich hingehe …

Johannes 16, 7

Der verborgene Sinn im bisher Sinnlosen verleiht allem sinnlosen Geschehen Sinn und Bedeutung. Alles Geistlose und Sinnlose, das auf diese Weise durch Gott (Geist) erfüllt wird, muss nun gut werden. Und so wie Jesus um Sinn und Bedeutung seines eigenen Leidens und Sterbens wusste, sollen auch wir auf den Sinn unseres eigenen Leides vertrauen. Denn durch seine bereitwillige Hingabe am Kreuz, sollte deutlich werden, dass dieser Sinn jetzt überall dort einkehren wird, wo wir ihn vertrauensvoll suchen.

Deshalb nahm Jesus Unrecht, Leid und Tod auf sich, damit nun auch wir darauf vertrauen können, dass der Sinn in allen Geschehnissen innewohnen will, wo wir ihn ersehnen und einlassen. In Wahrheit, wohnt der Sinn von jeher in allen Geschehnissen, da ohne Gott (Geist und Sinn) nichts sein kann und der Geist alles durchdringt und mit Leben erfüllt. Jegliche Existenz, alles Leben hängt am Sinn. Doch solange wir dies nicht glauben wollen, haben wir keinen Anteil an einem Leben jenseits der Geistlosigkeit und des Unsinns in der Welt.

Alles,
was zum Leben kommen will, das muss einen allumfassenden, hintergründigen Sinn erfahren.

Alles vormals Niedere, welches Geist und Sinn empfangen hat, das ist auch lebendig geworden. Dies ist das universelle Schöpfungsprinzip, dass Gott aus Nichts etwas erschafft. Das Sinnlose, Geistlose, Niedrige, Schmutzige, Schmachvolle, Verwerfliche und Verdammte – das ist von jeher der „Stoff“ aus dem Gott neues Leben erschafft.

Da machte JHWH der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so wurde der Mensch ein lebendiges Wesen.

Genesis 2,7

Die Überwindung des inneren Bösen

Wer die Botschaft Jesu verinnerlicht, wird anfangen, die Welt in einem neuen Licht zu betrachten. Das, was wir bisher abschließend als das Böse oder das Schlechte bezeichneten, hört im Sinne Jesu auf böse und schlecht sein.
Denken wir dabei nur einmal an eigene beschwerliche, peinliche oder auch gefährliche Situationen und Erfahrungen, durch die wir grundlegend gereift sind oder durch die wir etwas Wichtiges erkannt oder gelernt haben, etwas, das wir im Nachhinein nicht mehr missen möchten. Unsere menschlichen Bewertungen und Festlegungen in Gut und Böse sind also keineswegs so ultimativ, und eindeutig wahr, wie wir oft meinen. Meist sind sie zeitbedingt und erscheinen uns mit zeitlichem Abstand bereits verändert und manchmal dann sogar gegenteilig. Wie oben erklärt, fordert uns Jesus dazu auf, dem Feindlichen, Bösen und Schlechten gegenüber, eine neue, veränderte Haltung einzunehmen, indem wir es nach Gottes Willen an und auf uns nehmen sollen. Aber dies gilt nicht nur für das Böse, das uns von außen begegnet, sondern insbesondere auch für das Böse, das uns aus unserem Innern droht, also das Böse, das uns selbst anhaftet.
Die Theodizee-Frage, warum Gott das Böse in der Welt zulässt, muss also erweitert werden auf das Innere des Menschen. Denn der Ursprung jenes Bösen, das Menschen einander immer wieder antun, liegt nicht irgendwo außerhalb, sondern er liegt vielmehr in uns selbst. Dieses innere Böse wird auch als die Ursünde des Menschen bezeichnet. Unter dieser Ursünde versteht man alle menschlichen Schwächen, wie Irrtum, Ungerechtigkeit, Hass, Neid, Missgunst, Rachsucht, Niedertracht, Unbarmherzigkeit etc.

Auch unsere eigene menschliche Schwäche und Mangelhaftigkeit soll nun, der Lehre Jesu nach, einen tiefen Sinn und eine Bedeutung finden können.

Doch welcher Sinn könnte in unserer menschlichen Schwäche und in unserer Fehlbarkeit liegen? Die Antwort Jesu ist schlicht:
Der Mensch soll Vergebung und Barmherzigkeit üben, er soll gnädig mit den Fehlern seiner Mitmenschen verfahren, eben weil er selbst der Vergebung, der Barmherzigkeit und der Gnade bedarf:

Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.

Matthäus 5,7

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch messen.Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, und bemerkst nicht den Balken in deinem eigenen Auge? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und dabei, ist ein Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!

Matthäus 7, 1-5

Wenn unser Antrieb Gnade, Vergebung und Barmherzigkeit zu üben, aus der Einsicht in die eigene Fehlbarkeit rührt, so kommt unserer menschlichen Unvollkommenheit plötzlich ein Sinn und eine tiefe Bedeutung zu.

Damit wir fähig werden, anderen Menschen Schuld zu vergeben, müssen wir selbst einsehen und anerkennen, schuldig zu sein. Das heißt, wir müssen bereit werden, Selbsterkenntnis zu üben. Und hierin liegt der tiefe Sinn unserer menschlichen Fehlbarkeit begründet. Was Sinn gefunden hat, das hat Geist gefunden und was Geist gefunden hat, das hat Gott gefunden. Was Gott gefunden hat, das hat aufgehört, gottlos zu sein. Und was aufgehört hat, gottlos zu sein, das hat aufgehört, unser Schaden und das heißt, es hat aufgehört, Sünde zu sein. Auf dieser Ursächlichkeit beruht die Lehre Jesu von der grundlegenden Vergebung unserer Schuld durch Gott. Unsere Schuld ist insoweit grundlegend vergeben, als wir selbst bereit werden, denen zu vergeben, die sich an uns schuldig machen, eben weil wir um unsere eigene Fehlbarkeit wissen.

Und vergib uns unsere Schuld, wie wir auch denen vergeben, die an uns schuldig werden.

Mat 6, 12

Denn wenn ihr den Menschen ihre Fehler vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben, wenn ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.

Mat 6, 14-15

Auferstehung zu neuem Leben

Im Gleichnis vom Weizenkorn verdeutlicht Jesus Sinn und Bedeutung seiner eigenen Passion. Hier legt er sinnbildlich dar, dass alles menschliche Sterben in dieser Welt einen Sinn und eine Bedeutung erfahren muss, genauso wie dem Sterben in der Natur von jeher Sinn und Bedeutung zukommt.

Amen, amen, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde hinabfällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.

Johannes 12, 24

Nur soweit auch unser Sterben eine Notwendigkeit erfährt, kann unser Leben eine grundlegende Förderung erfahren. Und diese Förderung besteht darin, dass es einem neuen, transzendenten Lebensverständnis dient. Jesus beantwortet also auch hier die Frage, wozu Gott das Leid in der Welt zulässt, indem er jeglichem Sterben in dieser Welt eine grundlegende Bedeutung zuschreibt. Dabei steht und fällt die Bedeutung von Tod und Sterben mit dem Wissen um das Transzendente – um das, was über das Zeitliche und Vordergründige hinausweist:

wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.

Johannes 12, 24

Genauso wie es uns die Vorgänge in der Natur lehren, so soll, der Lehre Jesu nach, jedes Opfer und jede bereitwillige Hingabe dem Werden neuen, größeren Lebens dienen. Ob wir selbst an solchem neuen Leben teilhaben, hängt am Vertrauen, das uns fähig macht, altes Leben im Sinne Jesu bereitwillig hinzugeben und zu lassen. Denn lassen müssen wir unser zeitliches Leben ja ohnehin. Doch solange wir die Wirklichkeit unserer Sterblichkeit nicht wahrhaben wollen, solange wir sie negieren und ignorieren und solange wir festhalten wollen, was wir nicht festhalten können, kann unser Sterben auch keinen Sinn erfahren, denn wir stellen uns gegen die Wahrheit unserer Sterblichkeit. Jesus lehrte „wie“ unser Sterben jenen Sinn erfahren kann, damit es Unsterblichkeit erlangt.

Die Überwindung des Todes beruht auf der gefundenen Bedeutung der Umstände unseres Sterbens

Jegliches Loslassen, Verzichten und Sterben, muss um Einsicht in eine unumstößliche Wahrheit geschehen. Das heißt, ebendort, wo unserem äußeren Sterben eine transzendente Bedeutung zukommt, da geschieht unser Sterben nicht mehr vergebens. Jesus hatte in seinem Leiden und Sterben für sich eine Notwendigkeit erkannt, nämlich dass durch seinen Tod ein neues geistiges Bewusstsein geschaffen wird, das allen Menschen zugutekommt, die danach suchen. Sein einzelnes Opfer, sein Leiden und Sterben trug „Frucht“ für viele – für all jene, die nun ihrerseits ihr Leben in seinem Geist hingeben und lassen können, wodurch es ebenfalls Erneuerung durch den Geist erfährt: Das ist das Prinzip der Auferstehung. Die Auferstehung Jesu ist die Auferstehung eines Lebensverständnisses, welches bereits hier und jetzt über das Zeitgebundene und Vordergründige hinausgelangt ist:

Diejenigen, die sagen: „Der Herr ist zuerst gestorben und dann auferstanden“, sind im Irrtum. Denn er ist zuerst auferstanden und dann gestorben. Wenn jemand nicht zuerst die Auferstehung erwirbt, wird er sterben.

Philippusevangelium Spruch 21

Es ist ein zeitloses, ein ewiges Lebensverständnis, das durch keine Sache der Welt geschmälert oder behindert werden kann, sondern das nun durch alle Geschehnisse Förderung erfährt, selbst durch Ungerechtigkeit, Leiden und Sterben, wie es Jesus lehrte:

Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, selbst wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nicht mehr sterben. Glaubst du das?

Joh 11, 25, 26

Christus der Überwinder
Die Auferstehung – Der Isenheimer Altar / Colmar 1512-1516 – Künstler: Matthias Grünewald

Die Theodizee-Frage ist damit keineswegs erschöpfend beantwortet doch dieser Beitrag konnte vielleich einen Eindruck von der gedanklichen Fülle der Botschaft Jesu vermitteln. Auch möchte ich den Leser nicht ermüden. Daher freue ich mich auf kritische Fragen und Kommentare, die ich hier gerne direkt beantworten werden. Und so schließe ich mit den Worten Jesu:

In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.

Johannes 16, 33

Weitere Beiträge auf Christophilos zu dieser Thematik finden Sie unter: Missverstandener Opfertod Jesu und Die Überwindung der Welt sowie meine kritische Rezension zu dem Buch: Abschied vom Opfertod von Meinrad Limbeck

Was war der Sinn der Mission Jesu?

Der Sinn der Mission Jesu bestand und besteht bis heute in der Vermittlung einer neuen, universellen Lebenseinstellung den leidvollen und beschwerlichen Seiten unseres Daseins gegenüber.

Grundlegendes zum Verständnis der Lehre und der Passion Jesu

Der Sinn der Mission Jesu erschließt sich uns einerseits aus seinen überlieferten Worten (Evangelien) und andererseits in seiner Passion, das heißt, in seinem Leidensweg, den er ganz bewusst wählte. Beides sind grundlegende Aspekte seiner Botschaft, die zusammengehören. In seiner Lehre verdeutlicht Jesus, dass alle „Unordnung“ unseres menschlichen Daseins, wie Ungerechtigkeit, Schwäche, Irrtum, Täuschung, Leid und Tod „nicht“ auf äußerliche Weise in Ordnung gebracht, d. h. heil werden können. Er macht deutlich, dass das Böse nur in einer bestimmten inneren Haltung gemeistert und somit „überwunden“ werden kann, wodurch es grundlegend gut wird. Diese Geisteshaltung verbal zu vermitteln und sie gleichzeitig selbst konsequent zu leben, war er gekommen.

Welche Lebenseinstellung vermittelte Jesus konkret?

Die neue Lebenseinstellung, die Jesus in seiner Botschaft vermittelte, ist allumfassend und universell. Sie besagt, dass Gott ausnahmslos alle Geschehnisse wirkt – eben auch die leidvollen und beschwerlichen. Deshalb sollen wir eben diese Bereiche in Gott „hineintragen“ damit sie einen Bedeutungswandel erfahren können. In Gott hineingetragen werden sie, indem wir sie ganz „individuell“ für uns als bedeutungsvoll auffassen und deshalb vertrauensvoll annehmen, auch wenn sie beschwerlich, ungerecht oder leidvoll sind. Deutlich wird dieses universelle Lebensverständnis Jesu an Weisungen wie der folgenden:

Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Steuereintreiber?

Matthäus 5, 43-48

Da Gott alle Geschehnisse wirkt, geschieht uns der Lehre Jesu nach, nichts von ungefähr. Im Licht seiner Botschaft wird uns alles bedeutsam, in allen Dingen liegt ein tiefer Sinn verborgen, der von uns gesucht und gefunden werden will. Dieser Sinn ist Gott selbst – der verborgene Sinn im vermeintlich Sinnlosen. In diesem Verständnis fordert Jesus uns zu einer sehnsuchtsvollen inneren Sinn- und Gottsuche auf:

Bittet, so wird euch gegeben; sucht, so werdet ihr finden; klopft an, so wird euch aufgetan.

Matthäus 7,7

Die erste Aufforderung beschreibt eine innere Sehnsucht nach Geist (Gott), ohne die uns kein neues Lebensverständnis zuteilwerden kann. Die zweite Aufforderung vermittelt uns ein tiefes Vertrauen, durch welches Gott (Geist und Sinn) sich dem aufrichtig Suchenden nicht verschließen kann, sondern sich offenbaren muss. Und die dritte Aufforderung bezieht sich auf alle harten Grenzen, die das hiesige Leben uns setzt.
Leid, Tod, Unrecht, Verleumdung, Ausgrenzung, Demütigung etc.
wir sollen diese Grenzen bewusst berühren, wodurch sie zu uns zu Türen werden, die uns neue Räume eröffnen.
Dabei kann nur das, was wir für uns „selbst“ als bedeutsam erkennen und annehmen, aufhören sinn- und bedeutungslos zu geschehen. Es ist insofern nicht möglich, jemanden anzuweisen, wie er richtig leben und handeln soll. Richtiges Leben im Sinne Jesu kommt aus dem Vertrauen, dass alles, was uns an Beschwerlichem und Leidvollem begegnet und anhaftet, einen Sinn erfährt, wenn wir es in der Geisteshaltung Jesu tragen und auf uns nehmen. Dabei ist es unerheblich, ob die Einschränkungen in uns selbst liegen (Schwäche, Irrtum, Täuschung) oder ob wir sie durch die Hand anderer erdulden.

So sind wir im Sinn Jesu aufgefordert, unsere eigene Schwäche zum Anlass zu nehmen, Vergebung und Barmherzigkeit gegenüber unserem Mitmenschen zu üben.

Bei Jesus war es die Schwachheit und Verletzlichkeit seines menschlichen Körpers, die er zum Anlass genommen hat, diesen für uns hinzugeben.

Was ist unter der Wahrheit zu verstehen, die Jesus selbst verkörperte?

Um uns diese Geisteshaltung zu vermitteln, war Jesus gekommen, darin bestand der Sinn der Mission Jesu. Diese Lehre von der grundlegenden Änderung unserer Lebenseinstellung hat er nicht nur verkündet, sondern er hat sie in seiner Passion auch selbst konsequent gelebt. In diesem Zusammenhang bezeichnet er sich selbst als die Wahrheit:

Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben …

Johannes 14, 6

Hier geht es um ein transzendentes Verständnis von Wahrheit – also um jene Wahrheit, die über unsere sterbliche Existenz hinausreicht. Mit anderen Worten; es geht um ein zeitloses Wahrheits- und Selbstverständnis. In diesem Selbstverständnis war Jesus fähig, sich Verrat, Verleumdung, Unrecht, Demütigung, Leiden und Sterben auszusetzen. Denn eben das ist das Wesen der Wahrheit Jesu, dass sie durch keine Sanktion der Welt geschmälert oder vernichtet werden kann, sondern, dass sie immer und ausschließlich Förderung erfährt, und zwar dort, wo sie das Hinderliche aus der Hand Gottes auf sich nimmt und trägt.

Die Überwindung der Welt

Angesichts seiner bevorstehenden Verhaftung und Hinrichtung spricht Jesus erstmals von der Überwindung der Welt. Aber was meinte er als er sagte, dass er den Namen des Vaters verherrlichen werde wenn er das Leid, das seine Feinde über ihn verhängt hatten, auf sich nehmen und am Kreuz sterben würde. Worin konkret bestand für ihn die Überwindung der Welt? Bestand sie im Scheitern seiner Mission am Kreuz?

Wie kann die Welt überhaupt überwunden werden, wenn sie doch augenscheinlich obsiegt? Erfreut sich Gott etwa am Leid des Menschen? Um diese Aspekte der Botschaft Jesu soll es in dem folgenden Beitrag gehen.

Was bedeutet Überwindung?

In seiner Passion zeigte er auf wie der Mensch den beschwerlichen und leidvollen Seiten seines Menschseins begegnen soll, damit sie verstanden, getragen und letztlich geistig überwunden werden können. Dabei besteht der Weg Jesu in einer außerordentlichen, inneren Einstellung den ungerechten, beschwerlichen und leidvollen Geschehnissen gegenüber. Wir sehen in Jesus Christus den Allerersten, dem es durch unerschütterliches Vertrauen in alle Lebensumstände gegeben war, den Willen Gottes durch Unrecht, Leid und Tod hindurch zu erkennen. Diese Geisteshaltung hat ihn frei gemacht von Gedanken der Schuld, der Anklage und der Vergeltung gegenüber seinen Feinden. Durch sein unerschütterliches Vertrauen und sein Wissen um den Sinn (Gott) im Sinnlosen (Gottlosen) war er davor bewahrt, an den schicksalhaften Geschehnissen seines Leidens und Sterbens zu zerbrechen, sodass er sterbend am Kreuz rufen konnte:

„Vater vergib ihnen denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Luk 23, 34

Leidend und sterbend am Kreuz machte Jesus deutlich, dass dieses neue Lebensverständnis, selbst von Geschehnissen, die äußerlichen Schaden und sogar den Tod bedeuten, unberührt und somit unzerstörbar bleibt.

Überwindung der Welt bedeutet im Sinne Jesu, die geistige Fähigkeit zu erlangen, frei von jeglicher, menschlicher Befangenheit, denken und handeln zu können. Auf dieser unbestechlichen Handlungsweise in vollkommener Freiheit, beruht die Verherrlichung Gottes – beruht die Verklärung des Geistes, wie Jesus es vor seiner Verhaftung gegenüber seinen Jüngern verdeutlichte:

„Ich habe dich (Vater) verherrlicht auf Erden und vollendet das Werk, das du mir gegeben hast, dass ich’s tun sollte. Und nun verkläre mich du, Vater, bei dir selbst mit der Klarheit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.“  Joh 17,5

Eben, weil Jesus sich der transzendenten Bedeutung seines Lebens bewusst war, konnte er sein Leben bereitwillig hingeben und konnte in seiner Passion konsequent im Sinne seiner Botschaft handeln, die er zuvor lehrte: „Liebet eure Feinde…“ Mat 5, 44

Metanoia – Ändert euren Sinn

Ein weiterer, essentieller Gedanke liegt der Lehre von der Überwindung der Welt zu Grunde und dieser beruht auf der Änderung der Gesinnung unserem Leben gegenüber. Mit dem Aufruf zur Änderung unserer Sichtweise knüpfte Jesus nahtlos an die Predigt Johannes des Täufers an, der den Menschen zurief: Metanoia!  „Ändert euren Sinn!“ Ein Wort, das in den meisten Bibeln etwas einseitig mit „Tuet Buße“ wiedergegeben wird.

Metanoia bedeutet aber, dass wir unser gesamtes Leben auf völlig neue Weise betrachten und bewerten sollen, nicht dem äußeren Augenschein nach, sondern nach dem Verständnis der Lehre Jesu. Dieses Verständnis besagt folgendes:

Alles, was in dieser Welt mit uns und um uns geschieht hat das Potential, im Einklang mit dem Willen Gottes zu stehen, sofern wir bereit sind nach dem Sinn und der Bedeutung leidvoller Geschehnisse zu suchen – sofern wir bereit sind, den Willen Gottes darin zu suchen.

Denn der Wille Gottes ist untrennbar verbunden mit Geist und Sinn:

Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.… Mat 7,7

Was nicht im Einklang mit dem Willen Gottes steht, das muss unser Dasein  behindern, beschädigen und vernichten. Gott aber ist das Leben selbst. Würde das Leben sich selbst behindern, beschädigen oder vernichten, so könnte es nicht existieren. Leben ist aber geradezu ein Synonym für Existenz, Realität, Wirklichkeit und Wahrheit.

In der Natur und in Wahrheit existiert kein sinnloses Unterliegen, Niedergehen und Sterben; alles Sterben dient neuem Leben. Daher, indem unser eigenes Sterben Sinn erfährt, ist der Tod überwunden denn Leben ist ein Synonym für Sinn und Bedeutung.

In Christus und das bedeutet, in unserer Suche nach dem Sinn im Sinnlosen, werden Leid und Tod – wird die Welt überwunden.

Ob also im Ungerechten, Beschwerlichen und Leidvollen der Wille Gottes an uns geschieht oder nicht, das hängt durch Jesus Christus nun nicht mehr von den Geschehnissen an sich ab, sondern es hängt allein ab von unserer inneren Haltung diesen Geschehnissen gegenüber – es hängt ab von unserer Einwilligung in den Willen Gottes. In Jesus Christus offenbart sich Gott als jene universelle Kraft, die ihre Herrlichkeit mit jeder Kreatur teilt, die seinen Willen in allen Geschehnissen sucht und findet. So gelangen wir durch Jesus Christus zu dem tiefen Verständnis, dass der Wille Gottes, sofern er zu unserem Besten geschehen soll, vollkommen abhängig ist, von unserer persönlichen Einwilligung in den Willen Gottes. Diese Theologie steht in vollkommener Übereinstimmung mit der Auffassung Jesu, der vor seiner Verhaftung bat:

Und ging hin ein wenig, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst!“  Mat 26,39

„Dein Reich komme. Dein Wille geschehe…“ Mat 6,10

In Jesus Christus sind wir aufgefordert den Willen Gottes in allen Geschehnissen zu suchen, wodurch allein er gefunden werden kann und muss. In seiner Passion lehrte er die Überwindung der Welt durch die vertrauensvolle Erkenntnis des göttlichen Willens in ausnahmslos allen Geschehnissen.

In der Welt habt ihr Angstaber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Joh. 16, 33


Notwendiges

In allem Scheitern liegt ein Sterben,
und jede Krankheit atmet Tod.
Doch alles irdische Verderben,
birgt auch die Wendung unsrer Not. 

Wenn als notwendig ich erachte,
auch meinen abgrundtiefsten Fall,
und so im bittren Elend schmachte,
durchmisst ein Ruf das Weltenall.

Denn was notwendig ist geworden,
durch mein Bejahen und Vertraun,
das hat nun aufgehört zu morden
und lässt mich neues Leben schaun.

In der Notwendigkeit der Dinge,
liegt auch der Wahrheit tiefster Grund,
den ich von Herzen hier besinge,
der immer neu zu jeder Stund.

Und in der Wahrheit liegt das Leben,
beschlossen in Notwendigkeit
Wer bittet, dem wird hier gegeben,
zu überwinden Zeit und Streit.

Elmar Vogel  19. Oktober 2020

Paradoxon

Leben ist stete Suche nach Leben,
Leben ist Finden in allen Dingen.
In jeder Regung entschlossenes Streben,
ahnendes Wissen zu großem Gelingen.

Am Ende wird das Verworfene dienen,
den Auftakt setzen zu neuem Beginn,
und Tage, die uns als Bürden erschienen;
wir leben sie neu in geläutertem Sinn.

Sterben folgt der Suche nach Tod;
Verlust des Lebens in allen Dingen,
In jeder Regung verzweifelte Not,
die drohende Fessel niederzuringen.

Am Ende wird das Verworfne zertreten,
nicht weil verwerflich, sondern weil verhasst.
Wir werden empfangen, was wir erbeten:
Erleuchtetes Dunkel - Bürde und Last.


Elmar Vogel  13. April 2020

Black Hole

Weshalb könnt ihr sie nicht tragen?
Alle Unvereinbarkeit
werft auf mich in dunklen Tagen.
Macht euch frei von allem Streit.

Wer kann alles auf sich nehmen,
ohne etwas preiszugeben:
Allen Irrtum, alles Schämen,
wer erweckt's zu neuem Leben?

Weshalb setzt ihr eine Grenze,
die der Kosmos doch nicht kennt?
Seht der Sterne Kreiseltänze,
um ein Zentrum, das verbrennt.

Sein Gesetz ist die Verzehrung,
steter Wandel sein Gebot.
Selbst die finsterste Entbehrung
wirft ein Licht auf Sturz und Tod.

Abertausend Sonnenmassen
speien in den Raum hinein.
Doch das Auge kanns nicht fassen,
unsichtbar sein Wiederschein.

Engster Raum und dunkle Masse
setzt den tiefsten Todespunkt.
Dennoch schafft es eine Trasse,
die hinausweist aus dem Schlund.

Er, der alles lassen kann,
der wird einst auch alles nehmen;
und wer alles tragen kann,
der wird alte Räume dehnen.

Elmar Vogel am 23. März 2020

Einst und jetzt


Bis erfüllt sind alle Zeiten
liegt die Welt in Krieg und Streiten
Darum will ich mich nicht an sie binden.
Meine Ängste und mein Bangen,
all mein Hoffen und Verlangen,
sind mir Suchen und Erfüllungfinden.

Darum suche ich und finde
wie der Lahme, wie der Blinde,
ungeahnte helle Worte,
abgrundtiefe, dunkle Orte,
die noch keine Namen tragen.
Und die Antwort aller Fragen:
Wie das Häßliche und Schöne
mich mit dieser Welt versöhne?

Bis getan sind alle Taten
muss die Welt sich selbst verraten,
wird die ihren täuschen und verlieren.
Alles wahre, echte Handeln
wird die Wirklichkeit verwandeln,
wird sie überwinden und regieren.

Darum suche ich und finde
wie der Lahme, wie der Blinde,
ungeahnte helle Worte,
abgrundtiefe, dunkle Orte,
die noch keine Namen tragen.
Und die Antwort aller Fragen:
Wie das Häßliche und Schöne
mich mit dieser Welt versöhne?

Wenn verklungen das Gesagte
und gesagt was keiner wagte,
wird der Taube neue Worte hören,
dass die Krankheit und die Bürde,
aller Schmerz verwandelt würde
allen denen, die sich nicht empören.

Darum suche ich und finde
wie der Lahme, wie der Blinde,
ungeahnte helle Worte,
abgrundtiefe, dunkle Orte,
die noch keine Namen tragen.
Und die Antwort aller Fragen:
Wie das Häßliche und Schöne
mich mit dieser Welt versöhne?

Elmar Vogel 20. Juni 2021

Transzendenz

Wenn alle Regung dieser Welt ein tiefer Sinn durchwebte
und wir die Gnade hätten, eben diesen Sinn zu fassen,
so würden Schicksal, Leid und Tod und alles je Gelebte
sich, in jenem neuen Licht betrachtet, wandeln lassen.

Wenn ein Gedanke doch, der jeder Schwerkraft widerstünde,
der Schweres heben könnte und allzu Leichtes fallen ließe,
das Herz zutiefst ergreifen könnte, dass es doch verstünde,
zu dulden, wenn sich höchster Sinn in Eigensinn ergieße.

So schüfe ganz alleine jene tiefe Zuversicht,
die bei uns stünde selbst in allergrößtem Ungemach,
den inn'ren Frieden uns, an dem es dieser Welt gebricht
und selbst im Sterben, zöge uns doch alles Leben nach.

Elmar Vogel am 25. Januar 2020

Überwindung

Liebet, deutet alle Zeichen,
die das Schicksal uns gesetzt,
denn zur Gunst kann nur gereichen,
was beachtet und geschätzt.

Jedes Übel sei durchdrungen,
überwunden durch den Geist,
der aus tiefsten Niederungen
in die höchsten Sphären weist.

Alles,  alles dient dem Leben
denn in tiefer Zuversicht,
wo in Not wird hingegeben,
Totgeglaubtes zu uns spricht.

Elmar Vogel 10. Januar 2020

Zum Taufverständnis Jesu

Der Auffassung Jesu nach, muss der Begriff der Taufe viel weiter gefasst werden, als wir ihn aus dem gängigen kirchengeschichtlichen Rahmen kennen.

Über die Bedeutung des menschlichen Scheiterns und Unterliegens und die Wiederauferstehung zeitloser Werte im Sinnbild der christlichen Taufe.

In den Urtexten des Neuen Testaments lautet das altgriechische Wort für „taufen“  baptízein (βαπτίζειν) und das für „Taufe“ baptein. Die Bedeutung des Begriffs reicht von „ein- oder  untertauchen“ bis hin zu „tränken und färben“.

In der ersten germanischen Bibelübersetzung, der gotischen Bibel von Wulfila aus dem 4. Jahrhundert, wird baptizein mit daupjan übersetzt, das ebenso wie das griechische Wort „tauchen“, „eintauchen“ bedeutet. Wie das gotische Wort daupjan gehen das altnordische deypa, das altenglische dyppan (s. a. dippen) und das althochdeutsche toufen, auf ein Wort zurück,  das im Neuhochdeutschen mit „tief“ wiedergegeben wird.  Quelle Wikipedia

Nun war die Muttersprache Jesu aber nicht das Altgriechische, sondern das Aramäische, denn er lehrte das Volk in der damaligen Landessprache. Im Aramäischen lautet das Wort für Taufe mamodita, das sich vom hebräischen amad ableitet und „aufstehen“ bedeutet. Die Wurzeln des Verbs amad wiederum gehen zurück auf den hebräischen Begriff amuda = Pfeiler. Vor diesem Hintergrund ist Taufe eher als ein Untergangs- bzw. Auferstehungsritual aufzufassen. Das heißt, neben dem Aspekt des Reinwerdens geht es auch um die innere Bereitschaft zu unterliegen (zu fallen und zu sterben) um danach erneut aufzustehen – um wieder aufgerichtet zu werden.

Damit wird deutlich, dass der Begriff der Taufe viel weiter gefasst werden muss, als wir ihn aus dem kirchlichen Rahmen kennen. Man vermutet heute, dass die große jüdische Täuferbewegung zur Zeit Jesu auf die Essener zurückgeht, die damals neben den Gruppierungen der Pharisäer und Sadduzäer eine besondere Form des Judentums vertrat. Stark für diese Vermutung sprechen die großen Wasserbecken mit Treppenanlagen zu beiden Seiten, wie sie bei den archäologischen Ausgrabungen des essenischen Wüstenklosters am Toten Meer zum Vorschein kamen. Hier war erstmals ein Untertauchen des ganzen Körpers möglich. Hinsichtlich des vollständigen Untertauchens unterschied sich dieser Ritus von den religiösen Waschungen des alten Testaments. Es ist anzunehmen, dass auch Johannes der Täufer in der Tradition der  Essener stand, später aber eigene Wege ging.  So setzte er gegenüber der Essenertaufe weitere, neue Akzente: das Untertauchen in „lebendigem“ Wasser und die öffentliche Taufe für jedermann – d. h. sein Taufbegriff war frei vom essenischen Elitegedanken. Der Begriff Lebendiges Wasser hat in der Sprache des Neuen Testaments eine doppelte Bedeutung. So bezeichnete man fließende (frische) Gewässer allgemein als lebendiges Wasser.  Wohl aus diesem Grund taufte Johannes die Menschen, die zu ihm kamen, auch in  einem Fluss, dem  Jordan. Auch Jesus verwendet den Begriff lebendiges Wasser jedoch bereits in einem übertragenen Sinne, wie aus dem Dialog mit der Samaritanerin hervorgeht, die den Begriff im herkömmlichen Sinne als fließendes bzw. frisches Wasser (im Gegensatz zu stehendem, abgestandenem Wasser) auffasst:

Dort war ein Brunnen, der Jakobsbrunnen, an den sich Jesus setzte, ermüdet von der langen Wanderung. Es war gegen 12 Uhr. Da kam eine samarische Frau zum Wasserschöpfen. Jesus sagte zu ihr: „Hast du auch etwas zu trinken für mich?“ Seine Jünger waren ins Dorf gegangen um etwas zu essen zu kaufen. Die samarische Frau sagte: „ Wie kannst du als Jude mich, die Samaritanerin, um etwas zu trinken bitten?“ (Die Juden halten sich nämlich von Samaritanern fern) Jesus antwortete ihr:  Wenn du wüsstest was Gott gibt und wer ich bin, dann hättest du mich um lebendiges Wasser gebeten, und ich hätte es dir gereicht.  Die Frau entgegnete: „Herr, du hast kein Schöpfgefäß und der Brunnen ist tief. Woher willst du das lebendige Wasser nehmen? Kannst du etwa mehr als Jakob unser Vater? Er hat uns nämlich den Brunnen geschenkt und selbst daraus getrunken, wie auch seine Kinder und seine Herde“ Jesus erwiderte: „ Jeder der von diesem Wasser trinkt, wird danach doch wieder durstig werden. Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, der wird nie mehr Durst haben. Vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm selbst zu einer Quelle werden, die bis in das ewige Leben sprudelt.“ Da sagte die Frau: „Herr gib mir von diesem Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierher kommen muss, um Wasser zu schöpfen…                           Johannes 4,6-15

Obwohl Johannes der Täufer eine neue, populärere Form der Taufe schuf, ahnte er doch, dass die Taufe als reines Wasserritual noch nicht zu ihrer eigentlichen Bedeutung gefunden hatte. So erklärt er freimütig:

Ich taufe euch mit Wasser; es kommt aber einer, der ist stärker als ich, und ich bin nicht wert, dass ich ihm die Riemen seiner Schuhe löse; der wird euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen.                    Lukas 3,16

Tatsächlich interpretiert Jesus den Taufbegriff für sich selbst bereits nicht mehr im Sinne Johannes des Täufers, sondern vielmehr im ursprünglichen Sinne des Wortes mamodita.  Und wie von Johannes dem Täufer angekündigt, kommt bei Jesus ein neuer transzendenter Aspekt hinzu: Taufe als bewusste Einwilligung in die leidvolle Konfrontation mit dieser Welt und damit als Akt der geistigen Überwindung von Leid und Tod. So bezieht Jesus den Begriff Taufe ganz konkret auf seine eigene Verurteilung und  Hinrichtung am Kreuz, wie in folgenden Aussagen deutlich wird:

Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?   Markus 10,38

Aber ich muss mich zuvor taufen lassen mit einer Taufe, und wie ist mir so bange, bis sie vollbracht ist! Lukas 12,50

Dennoch bleibt die eigentliche und ursprüngliche Symbolik des Untertauchens im hintergründigen Sinne erhalten. Das heißt, Taufe ist in den Augen Jesu Sinnbild für ein temporäres Untergehen, Scheitern, Unterliegen, Leiden und Sterben, damit das zeitlose Element (der Geist) umso kraftvoller wieder auferstehen kann. Hier ist es nun das Bild vom aufgerichteten Kreuzespfeiler (Pfeiler = amuda), das mit dem ursprünglichen Taufbegriff zusammen geht, das Jesus für sich so interpretiert:

Und  wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.        Johannes 3,14

Hier bezieht er sich auf ein Geschehen aus dem 4. Buch Mose, das er als Hinweis auf die transzendente Bedeutung seiner eigenen Kreuzigung und insofern als Erfüllung der Schrift versteht:

Da sprach der JHWH zu Mose: Mache dir eine eiserne Schlange und richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie an, der soll leben. 4. Mose 21, 8

Auch wenn in den Evangelien davon die Rede ist, dass Jesus getauft wurde, und dass er taufte, so erfahren wir in einem Nebensatz des Evangelisten Johannes, dass er selbst nicht taufte, dass es vielmehr seine Jünger waren,  die den johannäischen Ritus weiter pflegten, worin Jesus sie gewähren ließ:

Als nun Jesus erfuhr, dass den Pharisäern zu Ohren gekommen war, dass er mehr zu Jüngern machte und taufte als Johannes – obwohl Jesus nicht selber taufte, sondern seine Jünger –  verließ er Judäa und ging wieder nach Galiläa.    Johannes 4,1-3

Derselbe Evangelist Johannes schildert noch eine weitere Begebenheit, die uns das transzendente Taufverständnis Jesu verdeutlicht. Es ist der Bericht von der sog. Fußwaschung, am Vorabend seiner Verhaftung und Hinrichtung:

da stand er vom Abendessen auf, legte sein Obergewand ab, nahm eine Schürze und band sie sich um. Danach goss er Wasser in ein Becken und fing an den Jüngern die Füße zu waschen, und trocknete sie mit dem Schurz, den er sich umgebunden hatte. Da kam die Reihe an Simon Petrus; der jedoch sprach zu ihm: Herr, du willst mir die Füße waschen? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was ich tue, das verstehst du jetzt nicht; du wirst es aber zu einem späteren Zeitpunkt  erfahren. Da sprach Petrus zu ihm: Nimmermehr sollst du mir die Füße waschen! Jesus antwortete ihm: Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir. Da antwortete ihm Simon Petrus: Herr, dann nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt! Spricht Jesus zu ihm: Wer gewaschen ist, bedarf nichts, als dass ihm die Füße gewaschen werden; denn er ist ganz rein. Und ihr seid rein, aber nicht alle.  Johannes 13,4-17

Dass es Jesus hier weniger um körperliche Reinheit ging, wird aus dem Kontext deutlich. Und Jesus präzisiert seinen Begriff der Reinheit schon wenige Sätze später in seinem Gleichnis vom Weinstock:

Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.       Johannes 15,3

Doch selbst der Jünger Petrus missdeutet die Handlung Jesu und betrachtet sie als eine besondere Form der Wassertaufe, daher seine Bitte, Jesus möge ihm auch den Kopf und die Hände waschen.

Somit ist Taufe entsprechend dem Verständnis Jesu der Beginn einer  vertrauensvollen Haltung, in der wir jedes Scheitern, Unterliegen, selbst das eigene Sterben, tragen und somit dem Leid, verursacht durch eigenes Versagen oder durch höhere Gewalt, eine neue Qualität verleihen. Alles Leid, alle Ächtung oder Strafe, die wir in der Geisteshaltung Jesu tragen, hat aufgehört, Strafe Gottes zu sein. Im Geist Jesu wird alles Unterliegen und Scheitern zum Auftakt einer neuen Schöpfung. Hierin finden wir zu jener geistigen Taufe, in der Jesus sein eigenes Leid begriff. In einer Haltung, die nichts für sich selbst will, weil sie sich ihres unvergänglichen Wertes bewusst geworden ist, gibt es kein wirkliches Unterliegen. Unterliegen wird nur das, was seinen wahren Wert nicht gefunden hat, und deshalb irrtümlicherweise für wertlos erachtet wurde. Was seinen zeitlos-gültigen Wert erkannt hat, kann nicht endgültig zu Grunde gehen. Hier ist die Grundlage des Auferstehungsgedankens: Eben, weil Jesus die Konsequenz dieses Gedankens in seiner ganzen Tiefe erkannt hatte, war er bereit, das Äußerste auf sich zu nehmen und sein Leben hinzugeben. Diese Form der Hingabe ist die eigentliche Taufe im Sinne Jesu. Was heißt das? Die Preisgabe unserer selbst, d. h. das Opfer der äußeren Form ist sinnbildlich gesprochen, ein Untertauchen in das Luftlose – ein Hinabsteigen in die geistlosen Bereiche dieser Welt.  Weil das göttliche Element weder behindert noch ausgelöscht werden kann, wird es alles Geist- und Sinnlose mit Geist erfüllen und wird in einer neuen kraftvollen Form wiederkehren.

Krieg und Frieden

Aus Angst vor den Unwägbarkeiten des Daseins, meinen wir das Leben (be)zwingen zu müssen. Doch führen wir damit einen Krieg gegen einen Gegner, der uns immer überlegen sein wird.

Welcher König will sich auf einen Krieg einlassen gegen einen andern König und setzt sich nicht zuvor hin und hält Rat, ob er mit Zehntausend dem begegnen kann, der über ihn kommt mit Zwanzigtausend? Wenn nicht, so schickt er eine Gesandtschaft, solange jener noch fern ist, und bittet um Frieden. So auch jeder unter euch, der sich nicht lossagt von allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein.  Lukas 14,31-33

Jesus sah seine Mission vor allem darin, dass der Mensch ein neues, freundschaftliches Verhältnis zu seinem Leben finden könnte, doch dazu muss er sich von allem vermeintlich Sicheren distanzieren. Der christliche Erlösungsgedanke besteht darin, dass der Mensch in einem neuen Bewusstsein den erbitterten und aussichtslosen Kampf gegen das „ungerechte“ Leben nicht mehr zu kämpfen braucht. Denn dort wo wir uns nicht in der Lage sehen, auch in den Unannehmlichkeiten des Lebens Sinn und Bedeutung zu finden, wo wir uns also entschieden abwenden von den Schattenseiten unseres Daseins, wo wir das Unliebsame nicht sehen wollen, leben wir nicht im Einklang mit unserem Dasein.
Indem wir nur einen bestimmten Teil unseres Lebens akzeptieren und den anderen für unbrauchbar erklären, liegen wir im Krieg mit dem entscheidenden Bereich unseres Daseins, und es bleibt nur abzuwarten, wann der Zeitpunkt erreicht ist und das Leben mit allem verdrängten Leid anklopft und über uns hereinbricht.
Jesus hält uns hier eine ungewohnte Realität vor Augen und hinterfragt in diesem Gleichnis jenes Realitätsverständnis, das wir im Laufe unseres Lebens irgendwann einmal übernommen haben. So geht es ihm darum, den Krieg gegen das eigene Leben wieder ins menschliche Bewusstsein zu rufen. Rat halten, bedeutet hier abwägen, das heißt, man soll sich selbst ehrlich befragen, ob man sich tatsächlich gegen alle Unannehmlichkeiten – die das Leben uns entgegenhält – absichern oder sie wirkungsvoll ausschließen kann. Wenn wir uns diese Frage stellen, können wir sie letztlich nur mit „Nein“ beantworten. Das Leben ist uns übermächtig; es behält in seiner scheinbaren Teilnahmslosigkeit die Oberhand. Gerade dann, wenn man meint, man hätte alle Dinge für sich geregelt, wirft uns igendetwas plötzlich und unerwartet zurück. Gegen diese Übermacht antreten, heißt, seine Chancen in diesem Kampf nicht realistisch abgeschätzt zu haben. Sieht man solche Übermacht auf sich zukommen, bleibt im Grunde genommen gar keine andere Wahl, als den Kontakt mit dem Gegner zu suchen und um Frieden zu bitten. Tut man das, so wird man nun seine ganze Kraft darauf verwenden, mit dem vermeintlichen Feind Frieden zu schließen.
Konsequent ist daher auch hier der Nachsatz Jesu:  „So auch jeder unter euch, der sich nicht lossagt von allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein.“ (Lukas 14, 33) Damit gibt er zu bedenken, dass uns die Bürde des Menschseins durch Vordergründiges und Kurzlebiges nicht genommen werden kann. Der einzig gangbare Weg kann nur in einer Akzeptanz der ganzen Wahrheit liegen – also nicht im Ausweichen und durch Flucht in eine konstruierte Wirklichkeit. Erst auf Basis dieses Bewusstseins und Eingeständnisses gelingt uns das Annehmen aller Unannehmlichkeiten wie:  Schwäche, Unvermögen, Verlust, Krankheit, Verrat, Ungerechtigkeit und Tod.

Nun geht es darum, nichts, aber auch absolut gar nichts, auszuklammern, sondern alles „Schwere“ in das Denken und Handeln mit einzubeziehen. Exakt in dem Moment, in dem wir beginnen, nach Sinn und Bedeutung der Lebenssituationen zu suchen, die uns so sehr widerstreben, stehen wir in einer fruchtbaren Verhandlung mit dem vermeintlichen Gegner. Dieses Vertrauen in den bisherigen Feind führt dazu, dass uns das Leben in völlig neuer und freundschaftlicher Weise begegnen wird. Allem Unschönen, Peinlichem und allem Leid entgegenzugehen, um Frieden darin und damit zu finden, heißt im Grunde ja nichts anderes, als Selbsterkenntnis zu üben, da diese Dinge mit niemand anderem als mit uns selbst zu tun haben.

Selbsterkenntnis

Was  ich bin und was ich werde
liegt vor allem Anbeginn
aller Anfang wirkt  aus Erde
wirkt  aus Wasser, Geist  und Sinn.

Untergang ist uns befohlen
sterblich ist des Lebens Kleid
Todesangst und Atem holen,
sind Stumpfsinn und Glückseligkeit.

Jede Enge, jede Bürde
Niederlage, Todesgrimm
weist hinauf zu höchster Würde
ruft nach Luft nach Geist und Sinn.

Wissen um die eigne Sendung
nehmen was uns zugedacht
daran liegt des Schicksals Wendung
hierin liegt die höchste Macht.

Elmar Vogel / September 2018

Wandlung

Wo sich das Flüchtige
bewußt verliert,
kann das Wesen
erwachen.

Tote, zerquetschte Trauben
werden zu Wein.
Ohne Zutun – ohne zu tun.

Wein ist Wandlung
vom Fleisch - zum Geist.

Werdet Getötete
werdet Gärende
werdet Geist

Elmar Vogel / 2004

Das Unwägbare

Ich geh den Weg des Menschensohnes, der beständig an das Unwägbare denkt, um Beständigkeit den Dingen zu verleihen, die von Kindheit an ich liebgewonnen habe und die ich heut schon anerkenne als den hehrsten Teil der Gabe und des Lohnes - für diesen Lohn will ich mich gern kasteien.
Tod, Versagen, Niedergang und alles Schmachten – jede bittre Lage, die das Menschenherze so sehr kränkt, ich will sie ansehn und betrachten - will sie auf mich nehmen - so,  als hätten ich den Sinn, den alle Bitternisse in sich tragen, bereits verstanden und schon ausgefüllt. Ich möchte gern im tiefsten Herzensgrunde sagen, dass, wenn auch in augenblicklich noch verborgner Weise, jede Regung dieses Daseins dennoch mich beschenkt.

Elmar Vogel / April 2019